Verschiedene Systeme für Streckenüberwachung
Was kann die F1 von der WEC lernen?

Sie nerven. Sie ärgern. Sie verwirren. Seit Jahren echauffieren sich Fahrer, Teams und Fans über die Track Limits sowie die Handhabe der Rennleitungen. Die Formel 1 gab 2023 kein gutes Bild ab. Andere Rennserien haben dasselbe Problem. Wir fragen: Wie kriegt der Motorsport das Thema in den Griff?

Lewis Hamilton - Mercedes - GP Österreich 2023 - Spielberg - Formel 1
Foto: Wilhelm

Der Aufreger war groß: Nach dem F1-Grand-Prix der USA kam ans Licht, dass Sergio Perez in Austin permanent die Track Limits in Turn 6 verletzt hatte. Die Rennleitung bestrafte den Red-Bill-Piloten allerdings nicht und schmetterte den Protest von Haas ab. Auch die Williams-Piloten Alex Albon und Logan Sargeant sowie Lance Stroll (Aston Martin) scherten sich kaum um die weiße Linie neben dem Kerb.

Es ist der neueste Höhepunkt einer unsäglichen Seifenoper im Motorsport. Allein beim Grand Prix von Österreich gab es 2023 sage und schreibe 1200 Fälle, welche die Rennleitung untersuchte. Insgesamt zählte sie 83 Regelverstöße. Das endgültige Ergebnis verschickte die FIA am Sonntagabend um 21.26 Uhr. Aston Martins Teammanager Andy Stevenson hatte der FIA seine eigene Strichliste vorgelegt. Die dokumentierte, dass mehr Fahrer gegen die Track Limits verstoßen hatten, als die Rennleitung zunächst festhielt. Aston Martin protestierte – und wurde belohnt. Drei zusätzliche WM-Punkte gab es obendrauf.

Unsere Highlights
Sergio Perez - Red Bull - GP USA 2023 - Track Limits
Screenshot F1 TV

Sergio Perez interpretierte die Linie von Kurve 6 in Austin neu und verletzte permanent die Track Limits.

Keine Track Limits sind keine Lösung

Track Limits sind ein Thema der Neuzeit. Auf den ersten Blick kommen wir aus dem Dilemma nicht raus. Dabei liegt für viele die Lösung direkt vor den Augen: Abschaffung sämtlicher Track Limits. Oder? Spielberg 2003: Michael Schumacher startet seine Quali-Runde. Der Ferrari-Pilot schießt auf Turn 1 zu – und darüber hinaus. Der Formel-1-Rekordweltmeister steuerte bewusst seinen Renner abseits des Kerbs über die Auslaufzone, wie alle anderen Fahrer. Der Begriff "Track Limits" existierte vor 20 Jahren (noch) nicht. Doch die Zeit kann niemand zurückdrehen. Die Gründe für die Daseinsberechtigung der Track Limits sind vielfältig.

Kimi Räikkönen - McLaren - GP Österreich 2003 - Spielberg - Formel 1
Wilhelm

Vor 20 Jahren scherte sich niemand um Track Limits. Kimi Räikkönen steuert seinen McLaren bewusst neben den Kerb.

Weniger Kiesbetten auf F1-Rennstrecken

Die neuen Rennstrecken verfügen über mehr asphaltierte Auslaufzonen als früher. Flache Autos wie Formel-1-Rennwagen oder wie die WEC-Prototypen verzögern ohne Kiesbetten besser. In diesen würden sie auftitschen und zu wenig abbremsen. Des Weiteren sind die Auslaufzonen nicht auf das muntere Fahren neben der Strecke ausgelegt. Die Berechnungen, welche Energie eine Tecpro-Barrier abfedern kann, ergeben sich aus dem Fahren innerhalb der Track Limits.

Sprich: Verliert ein Pilot die Kontrolle über seinen Renner, weil er neben der Streckenbegrenzung rast, ist die aufzufangende Energie bei einem Unfall höher als die zuvor ermittelte. Der Pilot könnte sich schwer oder gar tödlich verletzen. Der Sicherheitsaspekt steht an erster Stelle und deshalb werden Track-Limits-Vergehen bestraft. Der Rennleiter ist selbst daran interessiert, die Vorgaben der FIA konsequent durchzusetzen. Er haftet dafür.

Porsche 963 - Sebring 2023 - WEC
Porsche

Formel-1-Autos und WEC-Prototypen neigen dazu, im Kiesbett aufzutitschen. Dadurch verzögern sie schlechter.

Rennautos sind schwerer geworden

Klar, die Fahrer könnten einfach mehr Platz zwischen der weißen Linie und der Strecke lassen. Doch das Niveau liegt in jeder Serie extrem dicht beieinander. Jeder versucht, das letzte Hundertstel aus seinem Auto zu quetschen. Die Formel-1- und die WEC-Piloten leiden zudem unter dem hohen Gewicht, das sie um den Kurs wuchten. Vor 20 Jahren wog ein F1-Renner noch 600 Kilogramm – mittlerweile sind es 800. Gegenüber der LMP1-Ära legten die Hypercars ebenfalls knapp 200 Kilo zu.

Erschwerend kommt der immense Abtriebsverlust der Hypercars hinzu. Die Autos rutschen stärker als zu LMP1-Zeiten. Die weiße Linie nicht zu überqueren, ist schwieriger geworden. Immer wieder beklagen sich die Fahrer zudem über die schlechte Übersicht. Nico Hülkenberg bemängelte das im Anschluss an den F1-GP in Katar. Hypercar-Piloten und vor allem GT-Fahrer sehen aufgrund ihrer Sitzposition und der geschlossenen Variante noch schlechter, ob sie sich die innerhalb der Track Limits bewegen.

Als Mahnmal für Racing außer Kontrolle gilt das 24h-Rennen in Spa 2020. Die Rennleitung gab den Fahrern einen Freifahrtschein. Die Verantwortlichen hatten zu wenig Personal, um die 56 GT3-Autos zu kontrollieren. Hatte ein Spotter beispielsweise ein Vergehen registriert, steuerte in der Zeit bereits ein anderer Lenker sein Fahrzeug über die Track Limits. Die Rennleitung knickte ein und hisste die weiße Flagge – die Piloten bedankten sich und schossen rechts und links von den Kerbs über die Ardennen-Achterbahn.

Fernando Alonso - GP Österreich 2023
Wilhelm

Die Formel-1-Renner sind 200 Kilogramm schwerer als vor 20 Jahren – ein Grund für das schwerer gewordene Einhalten der Track Limits.

Verschiedene Systeme bei Track Limits

Drei Jahre später ist der Motorsport weiter. Die Lösungsansätze geben Anlass zur Beseitigung des Problems. Die bessere technische Ausstattung könnte der entscheidende Schritt sein. Unser Schwester-Magazin Motorsport aktuell sprach während des WEC-Saisonfinales 2023 in Bahrain mit Serien-Renndirektor Eduardo Freitas. Chefredakteur Marcus Schurig durfte in der Race Control den Mitarbeitern über die Schultern schauen.

Vier verschiedene Systeme existieren im Motorsport ein. Der Portugiese erklärt, wie die Sportwagen-Weltmeisterschaft agiert. Erstens: "Spezielle Kameras, die aufgestellt werden. Das System filtert über einen Algorithmus die Überschreitungen auf, dafür braucht man einen speziellen Mitarbeiter. Wir haben vier Kameras, die wir an den Stellen positionieren, wo man mit Track Limits die größte Zeit gutmachen kann. Das Foto landet beim Mitarbeiter, der es anschließend überprüft."

Eine wichtige Verbesserung ist für den Motorsport-Funktionär der schwarze Strich zwischen der weißen Innenlinie am Kerb und der weißen Track-Limit-Linie. Das hilft optisch sowohl Fahrern als auch der Rennleitung. Ein Mitarbeiter sichtet die Bilder manuell. Bei erkennbaren Verstößen überprüft er den entsprechenden Mini-Sektor des betreffenden Piloten. Geht aus der Zeitnahme hervor, dass der Fahrer sich verbessert hat, verschickt die Rennleitung eine Verwarnung an das Team.

Eduardo Freitas - FIA - WEC
Wilhelm

Eduardo Freitas ist Renndirektor der WEC und sieht die Nutzung von GPS-Daten als Option für bessere Track-Limits-Kontrolle.

Fahrer-Konto für Track-Limits-Vergehen

"In der WEC-Saison 2023 hatte jeder Pilot ein Limit an Verwarnungen", bekräftigt Freitas. Bei den 24h von Le Mans lag das bei zehn. Ein Grund, weshalb Sébastien Buemi nicht den letzten Stint im 8er-Toyota fuhr, sondern Ryo Hirakawa ins Auto kletterte. Buemi hatte bereits neun Verwarnungen auf seinem Zettel. Andernfalls hätte es eine Strafe gehagelt. Hirakawa patzte prompt und der Weg zum Ferrari-Sieg beim 100-jährigen Le-Mans-Jubiläum war frei. Während eines gewöhnlichen WEC-Laufs durften sich die Fahrer drei Verwarnungen erlauben, ehe die Rennleitung bestrafte.

Zusätzlich setzt die Rennserie in anderen Kurven "Judges of Fact" ein – auf Deutsch: Sachrichter. Diese Mitarbeiter melden ein Vergehen an die Race Control. Dort sucht eine weitere Fachkraft das entsprechende Bild von der Streckenüberwachung manuell heraus. Im Gegensatz zur Formel 1 zählt die WEC bereits ab dem ersten Training Track-Limits-Vergehen und informiert die Teams. Ein Vorteil aus Freitas‘ Sicht: Die Fahrer werden bereits von der ersten Runde an erzogen. Die Formel-1-Piloten hingegen erwachen im Qualifying unsanft, wenn die Rennleitung ihre Rundenzeiten streicht.

Race Control - GP Belgien 2022 - Spa-Francorchamps - Formel 1
xpb

In der Race Control überprüfen die Mitarbeiter die Track-Limits-Verletzungen.

GPS eine Option für die WEC

Das zweite Verfahren funktioniert via GPS-Daten. Freitas ist davon angetan: "Das könnte unser System in ein paar Jahren ergänzen oder sogar ersetzen." Bisher arbeiten viele technische Lösungen in einem Frequenzbereich von lediglich fünf Hertz. Die Genauigkeit beträgt plus/minus zehn Meter. Zu ungenau, um es einzusetzen. Mit einer Frequenz von 100 Hertz, sprechen wir bereits von Millimeter-Abweichungen. Mehr ist allerdings nicht erlaubt. Dieser Bereich ist dem Militär vorbehalten.

Das dritte System verwendet die MotoGP. Im Asphalt verlegte Druckschläuche signalisieren unmittelbar, wenn ein Fahrer die Track Limits verletzt. Die Race Control erhält die Information sofort und gibt sie direkt an den Piloten auf dessen Dashboard weiter. Eine weitere Lösung könnten Timing Patches sein. Diese mit Sensoren ausgestatteten Flächen liegen nebeneinander. Je nach Fahrzeugbreite entscheidet der Ausrichter, welches Patch zählt. Eine Berührung löst automatisch ein Foto aus, dass die Rennleitung erhält.

Marc Marquez - Repsol Honda - GP Thailaind 2023 - Buriram
Motorsport Images

Die MotoGP verwendet Druckschläuche neben dem Asphalt. Berührt ein Fahrer diese, geht die Information unmittelbar an die Rennleitung.

Formel 1 hofft auf KI

Die Königsklasse ist, wie die WEC, zuversichtlich, das Problem 2024 in den Griff zu bekommen. Zum einen will die Formel 1 mehr Kiesbetten verbauen. Natürliche Track Limits – ganz nach dem Gusto der Puristen. Auch die MotoGP hätte damit kein Problem. Den Motorrad-Artisten sind die asphaltieren Auslaufzonen häufig zu kurz. Sie verzögern zu wenig und können zu schweren Verletzungen führen.

Die Formel 1 nutzt CCTV-Kameras, um die Sünder zu überführen. Dazu verwendet die Rennleitung die Onboard-Aufnahmen der Autos sowie Kontaktschleifen im Asphalt. Diese gibt es jedoch nicht überall. Analog zum Videokeller der Fußball-Bundesliga sitzen Mitarbeiter in der Race Control vor Ort und werden von Kollegen in Genf unterstützt. Sie analysieren die eventuellen Verstöße und übermitteln, sofern ein Vergehen vorliegt, unmittelbar. Bei der FIA ist Optimismus zu spüren, das Track-Limits-Problem in der Formel 1 für 2024 gelöst zu haben.

Ein neuer Ansatz bezieht sich auf Künstliche Intelligenz. Die Königsklasse will die Software so anlernen, dass sie vorab die eindeutigen Fälle filtert und keiner menschlichen Überprüfung benötigen. Die kniffligeren Aufgaben übernehmen wiederum die Mitarbeiter. Das Ziel der Rennleitung ist eine höhere Verarbeitungsgeschwindigkeit der Fälle. Doch aufgepasst: In Austin lag der Fehler an einer falsch ausgerichteten Kamera in Kurve 6.

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AUTO MOTOR UND SPORT 10 / 2024
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Erscheinungsdatum 25.04.2024

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