Interview mit der AVL List GmbH
„Man sollte Ziele statt Lösungen vorgeben“

Digitale Zwillinge, Simulationen, Fahrassistenzsysteme (ADAS), automatisiertes Fahren (AD): Wir haben mit drei Topmanagern des Technologieunternehmens AVL über die Zukunft der Fahrzeugentwicklung gesprochen.

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Foto: AVL

Die Automobilindustrie befindet sich in einem grundlegenden Wandel. Neue Player, vor allem die Konkurrenz aus China, geben den Ton und das Tempo an. Die europäischen Hersteller müssen bei der Fahrzeugentwicklung schneller werden. Die AVL List GmbH mit Hauptsitz in Graz, Mobilitätstechnologie-Unternehmen für die Entwicklung, Simulation und das Testen in der Automobilindustrie und anderen Branchen, unterstützt OEMs und Zulieferer bei diesem Transformationsprozess.

Unsere Highlights

Das vor 75 Jahren als Ingenieurbüro gegründete Unternehmen beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit der Entwicklung des E-Antriebs. Heute geht es um neue Technologien wie Attribute Engineering, digitale Zwillinge und Simulationen, die dabei helfen, die Entwicklungszeit eines Autos in der frühen Phase zu verkürzen und Kosten zu minimieren. Und es geht um CO₂-Neutralität.

CEO and Chairman Prof. Helmut List_AVL.
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„Die AVL steht für eine grünere, sichere und leistbare Welt der Mobilität und erwirtschaftet bereits 60 Prozent ihres Umsatzes mit nachhaltigen Technologien inklusive ADAS/AD. Bei allem, was wir tun, stehen der Mensch und seine individuellen Bedürfnisse im Mittelpunkt“, Helmut List, Vorstandsvorsitzender und CEO AVL.

Uwe Dieter Grebe, Executive Vice President, Stefan Bruhnke, Vice President, und Georg Schwab, Managing Director der AVL Software and Functions GmbH, geben einen Einblick in die komplexe Welt der Fahrzeugentwicklung.

Was kann die AVL grundsätzlich bieten, was Autobauer selbst nicht leisten können bzw. wofür sie Unterstützung benötigen?

Grebe: Wir sind Partner der Automobilindustrie. Das gilt sowohl für die Hersteller- als auch für die Zulieferindustrie. Wir sind es gewohnt, Fahrzeuge gesamtheitlich virtuell mit all ihren Funktionen darzustellen. Das hilft sowohl bei der Integration von Komponenten als auch dabei, eine Balance bei den Eigenschaften zu schaffen. Es hilft zudem dabei, die Gesamtheit des Fahrzeuges sehr früh abzubilden. AVL ist global aufgestellt. Wir sind an all den Orten aktiv, an denen Fahrzeuge entwickelt werden.

Schwab: Hervorzuheben sind auch unsere weitreichenden Erfahrungen in der Serienentwicklung von Software. Wir haben dazu eine eigene Toolkette und eine eigene Methodik entwickelt, die wir, wenn gewünscht, auch an Kunden verkaufen. Dabei haben wir uns sehr stark auf die Prozessoptimierung konzentriert und sind deshalb auch in der Lage, unsere Kunden weltweit zu unterstützen. Will heißen, wenn ein Kunde einen Auftrag in Europa einlastet und dann zum Beispiel in Indien Unterstützung benötigt, können wir das leisten, weil wir in Indien identisch entwickeln wie in Europa.

Was sind die Alleinstellungsmerkmale und besonderen Kompetenzen des Unternehmens?

Grebe: Wir sind im gesamten Bereich der Entwicklung tätig. Unsere Alleinstellungsmerkmale ergeben sich durch die Innovationen, die wir auf den Weg bringen. Wir sind in der Lage, in der Fahrzeug- und Antriebsentwicklung die Kenntnisse und Technologien auszuweiten und zusammen mit unseren Partnern bis in den Markt hineinzubegleiten. Wir tragen zur Entwicklung des Gesamtfahrzeuges bei und übernehmen im Rahmen dessen unterschiedliche Aufgabenpakete. Das kann zum Beispiel die Gestaltung des Fahrzeuges betreffen, es kann aber auch die Mitwirkung bei der Software oder die konstruktive Gestaltung einer einzelnen Komponente sein.

Uwe Dieter Grebe trat 2012 in den Vorstand von AVL ein.
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Uwe Dieter Grebe trat 2012 in den Vorstand von AVL ein. In seiner Rolle als Executive Vice President ist er für die globale Geschäftsentwicklung, den Vertrieb und das internationale Geschäft für Zweiräder, Personenkraftwagen, leichte Nutzfahrzeuge und Racing verantwortlich.

Wie lange dauert heute eine Fahrzeugentwicklung in der Regel?

Grebe: Das hängt davon ab, ob es sich um eine Derivatentwicklung handelt, also ob man auf einer Plattform aufbaut, oder ob es eine Plattformentwicklung ist. Die typische Zeitdauer für eine Derivatentwicklung liegt bei etwa drei Jahren. Eine komplette Plattformentwicklung dauert etwas länger, um durch alle virtuellen und physischen Prüfungen des Fahrzeuges durchzugehen und die entsprechenden Komponenten zu entwickeln.

Aus welchen Fachgebieten kommen die Mitarbeiter von AVL, auch im Hinblick auf das Thema Künstliche Intelligenz?

Grebe: Unsere Mitarbeiter stammen aus den Bereichen des Maschinenbaus, aber auch aus der Elektrotechnik und der Elektronik. Zunehmend wichtig sind für uns auch die Themen der Physik, der Chemie und weiter bis hin zu Grundlagen der Biologie. Weiterentwicklungen, etwa bei batterieelektrischen Fahrzeugen, können nur vorangetrieben werden, wenn man ein Verständnis der Elektrochemie hat, der Elektronik sowie natürlich auch des Maschinenbaus. Das bedeutet, dass wir ein sehr weites Spektrum an Mitarbeiterqualifikationen haben, um alle Gewerke abdecken zu können. Schwab: Wir haben sehr viele Datenanalysten beschäftigt, die relativ breit aufgestellt sind. Viele Mitarbeitende und Studierende, die aus den sogenannten MINT-Fächern kommen, haben bei AVL die Chance, in unsere KI-Bereiche mit einzusteigen.

Wo sehen Sie gegenwärtig die größten Herausforderungen?

Grebe: Derzeit haben wir zum einen das Thema Transformation. Transformation bedeutet aber nicht nur die Veränderung des Antriebs hin zur Elektromobilität. Es geht auch um die Integration von Konnektivität, also das erweiterte Agieren des Eco-Systems Fahrzeug mit seiner Umgebung. Der zweite Aspekt ist sicherlich die neue Aufstellung der Märkte, bei denen wir China mittlerweile als den größten Automobilmarkt und auch als Innovationstreiber sehen. Das heißt, die Welt ist deutlich vielfältiger geworden. Wir haben mehr Regionen, in denen Innovationen vorangebracht werden. Die Herausforderung besteht darin, sich neu aufzustellen und in diesem Wettbewerbsumfeld entsprechend erfolgreich zu sein.

Besteht für Europa gegenüber China ein Risiko, abgehängt zu werden?

Grebe: Ich glaube nicht, dass hier die Gefahr besteht, ins Hintertreffen zu geraten. Wir haben eine enorme Erfahrung. Wenn wir uns auf Europa fokussieren, ist sicherlich der Punkt, dass man schneller werden und diese Themen auch rasch in die Serie umsetzen muss. Das Innovationspotenzial halte ich für ungebrochen.

Schwab: Dadurch, dass die Software für Fahrzeuge immer komplexer wird und auch neue Play- er aus unterschiedlichsten Industriebereichen eine Rolle spielen, wird es umso wichtiger, die Gesamtzusammenhänge im Blick zu haben. Da sind wir als AVL über das gesamte System-Know-how hinweg sehr gut aufgestellt. Ich glaube, dass die europäische Automobilindustrie vielleicht in der Vergangenheit etwas zu langsam war. Das hat sich aus meiner Sicht mittlerweile geändert. Wir müssen uns also keine Sorgen machen.

Welche "Tugenden" sind heute für ein Unternehmen wie AVL ausschlaggebend?

Bruhnke: Die AVL hat den Vorteil, dass sie aus dem Technologiesektor kommt und damit traditionell auch sehr innovativ und experimentierfreudig ist. Dahinter liegt jedoch ein fundiertes fachliches Know-how. Wir fokussieren uns nicht auf eine bestimmte Antriebstechnologie oder Fahrzeugtechnologie. Abhängig vom Kundenwunsch können wir alle Anforderungen bedienen.

Stefan Bruhnke_AVL
AVL

Stefan Bruhnke trat Anfang 2023 in die AVL ein. In seiner Rolle als Vice President ist er global für das Business Development und das Engineering von Passenger Cars, Racing und Nutzfahrzeugen verantwortlich.

Grebe: Technologieoffenheit und das Ausloten der Grenzen in Kombination aus verschiedenen Wissenschaftsfeldern sind enorm wichtig. Wir haben heute weltweit die Situation, dass konkrete Lösungen von der Politik vorgeschrieben werden. Statt Lösungen sollte man Ziele vorgeben, damit der technologische Spielraum zum Erreichen dieser Ziele nicht eingeschränkt wird.

Schwab: Es gibt zwei wichtige Tugenden, die AVL auszeichnen. Zum Ersten sind wir global aufgestellt. Unsere Experten sitzen direkt in den Ländern. Sie kennen die unterschiedlichen Standards oder politischen Rahmenbedingungen, die für gewisse Technologien gelten, und können diese in die Entwicklerteams zurückspielen. Zum Zweiten kann AVL auf einen riesigen Datenpool aus der Vergangenheit zugreifen. Gerade eine KI funktioniert umso besser, je qualitativ hochwertiger ihre Daten sind.

KI ist ein gutes Stichwort: Wie rasch schreitet hier die Entwicklung voran?

Bruhnke: In Zukunft werden die Anforderungen aufgrund gesetzlicher Vorgaben oder Endkundenwünschen immer komplexer. Dies macht den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Fahrzeugentwicklung zwingend erforderlich, um diese Komplexität auch beherrschen zu können.

Schwab: Eine der größten Herausforderungen wird aus meiner Sicht sein, herauszufiltern, wo KI in dieser komplexen Landschaft konkret hilfreich sein kann und wo sie eigentlich keine Effizienzsteigerung bringt.

Inwiefern unterscheiden sich die Anforderungen und Bedürfnisse der Märkte?

Bruhnke: Bei den gesetzlichen Vorgaben gibt es zum Beispiel Unterschiede bezüglich der Emissionen. Bei den Standards wäre bei batterieelektrischen Fahrzeugen der Ladestandard zu nennen, der in den Märkten variiert. Und beim Thema Endkunden gibt es in China die Tendenz, dass die Fahrer viele Features in ihren Fahrzeugen haben möchten. Diese sollten auch regelmäßig Updates unterzogen werden. Zudem besteht der Wunsch, dass immer weitere Features über Over-the-Air-Updates dazukommen. Bei der Hardware, um ein Beispiel zu nennen, ist es das Thema Fahrwerk. Das wird in China als ein Komfortfeature gesehen, wenn es sehr soft ist. In Europa mögen wir das ein bisschen straffer, sportlicher, ein bisschen besser abgestimmt. Aber auch hier wächst der Wunsch, gerade bei der jüngeren Generation, dass Features einen höheren Stellenwert erhalten. Dazu sehen wir einen klaren Trend, dass die Fahrzeuge in Europa aufgrund des Reichweitenwunsches und damit einhergehend einer leistungsfähigeren Batterie auch größer werden. Vor allem in den USA spielen große SUV mit klassischen Antrieben immer noch eine wichtige Rolle.

Wie wichtig ist das Thema nachhaltige Mobilität, welchen Stellenwert nimmt es ein?

Grebe: Nachhaltigkeit bestimmt bei uns alle Aktivitäten. Damit meinen wir Nachhaltigkeit in der gesamten Bandbreite, also sowohl in der ökologischen als auch in der ökonomischen und der sozialen Ausprägung. Wenn wir das Ganze auf den Klimaschutz beziehen, so ist in der Historie von AVL das Streben nach einer Wirkungsgrad-Verbesserung und damit auch der CO₂-Reduzierung verankert. Heute steht für uns die CO₂-Neutralität im Mittelpunkt. Das gilt für den Betrieb von Fahrzeugen, es gilt aber auch für die Produktion bis hin zur Kreislaufwirtschaft. Für uns ist eine ganzheitliche Betrachtung wichtig. Denn wenn wir die CO₂-Emissionen in die Produktionsphase verlagern, was insbesondere bei der energieaufwendigen Batterieherstellung der Fall ist, und hier nicht dafür Sorge tragen, dass wir uns auch bei diesem Thema einem Netto-null-Emissionspotenzial annähern, haben wir letztlich unser Ziel für das Klima nicht erreicht.

Was verstehen Sie im Hinblick auf moderne Mobilität unter dem Begriff "Inklusion"?

Grebe: Inklusion ist für uns eine sehr wichtige Thematik in der Weiterentwicklung der Mobilität. Inklusion bedeutet für uns, alle Menschen, unabhängig von Alter oder auch Bewegungseinschränkungen, an der Mobilität teilhaben zu lassen. Das betrifft zum Beispiel Personen ohne Führerschein oder auch Kinder. Wir müssen diese Mobilität für alle Menschen in den Mittelpunkt stellen. Nur Lösungen, die niemanden ausschließen, sind für uns ganzheitliche Konzepte, die man verfolgen sollte.

Wo besteht hier Handlungsbedarf?

Schwab: Wir sehen da vor allem den ländlichen Raum und dort besonders die älteren Menschen, die kein Auto mehr bewegen können. Hier braucht es Konzepte mit autonomen Fahrzeugen, die bei Bedarf per App angefordert werden können. In Summe würde dies dabei helfen, das Verkehrsaufkommen zu minimieren. Das heißt, Busse des ÖPNV könnten optimal ausgelastet fahren. Dennoch wäre sichergestellt, dass Ältere nach wie vor selbstständig zu Ärzten oder Nahversorgungszentren gelangen können.

Kommen wir zum Thema Simulationen: Worin besteht der größte Benefit?

Bruhnke: Generell simuliert man in einer frühen Phase der Fahrzeugentwicklung, um am Ende dann auch Hardwaretests einsparen zu können. Das heißt, je besser das Simulationsmodell das Gesamtfahrzeug zu Beginn einer Entwicklung abbildet, umso größer ist dann der Benefit in Form verkürzter Entwicklungszeiten. Es werden weniger Prototypen benötigt, der Aufwand an Kalibrierung und Testing ist ebenfalls geringer.

Was kann hierbei alles untersucht werden, ohne auf den Prüfstand oder die Teststrecke zu müssen?

Bruhnke: Wir bieten einen sogenannten digitalen Zwilling an, der das gesamte Fahrzeug abbilden kann. Die komplexe Software, die hierzu notwendig ist, hat natürlich ihren Preis. Deshalb wird im Vorfeld genau überlegt, was man alles mit diesem digitalen Zwilling testen möchte. Man kann dabei sowohl ergonomische Themen repräsentieren als auch gesetzliche Vorgaben. Das geht sogar so weit, dass die Komponenten in der gesamten Lieferkette abgebildet werden können. Ein Beispiel ist der Bereich Antrieb: In Zusammenarbeit mit unseren Kunden sind unsere Simulationen hierbei bereits so ausgereift, dass wir auf bestimmte Hardwaretests am Prüfstand vollständig verzichten können. Dies spart erheblich Kosten, aber auch Entwicklungszeit.

Schwab:  Ich möchte ergänzen, dass auch die Softwaretests über einen digitalen Zwilling effizienter gestaltet werden können. Teilweise kann man auch Themen darstellen, die im Fahrzeug nur schwer simulierbar sind. Zum Beispiel lässt sich ein Kurzschluss im Kabelsystem sehr einfach simulieren, wenn man einen guten digitalen Zwilling zur Verfügung hat.

Georg Schwab_AVL
AVL

Georg Schwab ist Gründungsmitglied und seit 2008 Managing Director der AVL Software and Functions GmbH mit Sitz in Regensburg. Als Fachbereichsleiter verantwortet er den globalen Softwarebereich innerhalb der gesamten AVL-Gruppe.

Grebe:  In der virtuellen Umgebung können Rahmenbedingungen, seien es klimatische Themen oder Belastungszustände, also Fahrzustände, schnell parallel variiert werden. Das heißt, man kann das Fahrzeug virtuell in mehreren Entwicklungen laufen lassen. Damit gewinnt man an Geschwindigkeit. Der Bau von Hardware kann also auf das Erzeugen von repräsentativen virtuellen Modellen verlagert werden.

Abschließend die Frage, welche Rolle Emotionen bei der Fahrzeugentwicklung spielen: Müssen Fahrzeuge heute noch begehrenswert sein?

Grebe: Ich teile uneingeschränkt die Meinung, dass Autos begehrenswert sein müssen. Fahrzeuge gehören zu den Errungenschaften der Menschheit. Die Teilnahme an Mobilität ist ein ganzheitliches Erlebnis, das traditionell mit Emotionen wie Fahrspaß und Freude verbunden ist. Beim Fahren kann die Fahrdynamik mit dem ganzen Körper erlebt werden. Diese Erfahrungsmöglichkeit darf meines Erachtens nicht verloren gehen.

Die aktuelle Ausgabe
AUTO MOTOR UND SPORT 10 / 2024
AUTO MOTOR UND SPORT 10 / 2024

Erscheinungsdatum 25.04.2024

148 Seiten