Interview mit Cyrille Roget
„Jährlich 128 Millionen Altreifen einsparen“

Cyrille Roget als Direktor für Wissenschafts- und Innovationskommunikation bei Michelin über die Frage, wie Reifen umweltfreundlicher werden können – und welche Rolle Wasserstoff künftig für das Unternehmen spielen wird.

Cyrille Roget, Direktor für Wissenschafts- und Innovationskommunikation bei Michelin
Foto: Michelin
Sie wollen ab 2030 zu 40 und ab 2050 zu 100 Prozent Reifen aus vollständig biologisch erzeugten oder recycelten Materialien produzieren. Welche Schritte müssen Sie dazu heute einleiten, um dieses Ziel zu erreichen? Und welche Wege dürfen Sie nicht weiterverfolgen?

Mit unserer All-Sustainable-Strategie streben wir nach der besten Balance zwischen Menschen, Umwelt und Wirtschaftlichkeit. Beim Thema Umwelt spielt für uns insbesondere die sogenannte Lebenszyklusanalyse (LCA) eine entscheidende Rolle. Sie hilft uns, Technologien zu identifizieren, die die Umweltauswirkungen unserer Reifen reduzieren – und zwar ohne Kompromisse in Bezug auf Leistung und Sicherheit des Produkts. Das bedeutet auch, dass wir recycelte und erneuerbare Materialien im Reifen nur dann einsetzen, wenn sie sich insgesamt positiv auf den ökologischen Fußabdruck auswirken. Um bis 2030 in unseren Produkten einen Anteil nachhaltiger Materialien von 40 Prozent zu erreichen, haben wir bereits 2012 mit unserem Projekt "BioButterfly" den Grundstein gelegt, Butadien (ein Vorprodukt von synthetischem Kautschuk) aus Biomasse zu gewinnen. Das ist nur ein Beispiel für die Zukunftstechnologien, die schon heute in einigen unserer Produkte stecken. So haben wir im vergangenen Jahr einen Pkw- sowie einen Bus-Reifen vorgestellt, die zu 45 bzw. 58 Prozent aus nachhaltigen Materialien bestehen. Die Reifen haben nicht nur eine offizielle Straßenzulassung, sondern erfüllen auch die gleichen Anforderungen wie konventionelle Modelle. Bis 2050 sollen unsere Produkte dann über alle Segmente hinweg zu 100 Prozent aus nachhaltigen Materialien bestehen.

Unsere Highlights
Michelin setzt in bewährter Weise – Long Lasting Performance – auf die Vermeidung unnötigen Reifenabriebs. Welche Maßnahmen infrastruktureller und Fahrzeug-konstruktiver Art könnten dazu beitragen, Partikel zu binden oder erst gar nicht entstehen zu lassen?

Im Rahmen unserer Performance-made-to-last-Strategie arbeiten wir kontinuierlich daran, die Leistung unserer Reifen über ihren kompletten Lebenszyklus hoch zu halten. 75 bis 90 Prozent der Umweltbelastung eines Reifens fallen bei seiner Nutzung an. Hier liegt also ein großer Hebel, um die Ökobilanz massiv zu verbessern. Um diese Auswirkungen genauer betrachten zu können, unterstützen wir es, dass Reifen zunehmend auch in gefahrenem Zustand getestet werden. Die heute in Europa geltende Gesetzeslage schreibt bisher nur das Testen von Neureifen vor. Gerade in Hinblick auf die Umwelt und Sicherheit ist es jedoch wichtig, die gesamte Lebensdauer eines Reifens bis zur gesetzlichen Mindestprofiltiefe zu betrachten. Wir stehen als Branche in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass sich der Material- und Ressourceneinsatz für unsere Produkte gering hält und sie möglichst langlebig sind. So könnte die Nutzung von Reifen bis zur gesetzlichen Mindestprofiltiefe allein in Europa jährlich rund 128 Millionen Altreifen einsparen. In Bezug auf die Reifenpartikel gibt es verschiedene Einflussfaktoren. Einer ist die Konstruktion des Reifens. So arbeiten wir bereits seit mehreren Jahren an einem Reifendesign, das auf die optimale Nutzung des Materials ausgerichtet ist, um den Abrieb unserer Produkte zu reduzieren. Vor Kurzem konnten wir in mehreren Veröffentlichungen unter Beweis stellen, dass Michelin-Reifen bis zu 28 Prozent weniger Reifenpartikel emittieren als der Durchschnitt der Premium-Wettbewerber. Weitere Einflussfaktoren sind beispielsweise die Beschaffenheit der Straße, Wetterbedingungen, Fahrzeugspezifikation wie das Gewicht und der Fahrstil.

Reifen bestehen aus Sicht vieler Autofahrer aus Kautschuk, Kunststoffen, Ruß, Geweben und Stahl. Welche Ansätze verfolgt Michelin, Reifenbestandteile durch Komponenten aus nachwachsenden Rohstoffen oder durch Recyclingprodukte zu substituieren?

Michelin-Reifen enthalten immer häufiger biologisch hergestellte oder recycelte Materialien, wie etwa Naturkautschuk oder recycelten Kunststoff. Seit 2012 untersuchen wir alle Bestandteile eines Reifens sehr genau und arbeiten daran, die fossilen Materialien durch nachhaltige Materialien zu ersetzen. So verarbeiten wir beispielsweise biologisch-recyceltes PET aus Plastikflaschen zu technischen Fasern oder arbeiten gemeinsam mit dem schwedischen Start-up Enviro am Recycling von Altreifen. Aber auch Materialien wie Sonnenblumenöl oder Orangenschalen setzen wir schon heute in unseren Reifen ein – zum Beispiel in der MotoE.

Wir sehen in letzter Zeit eine Spezialisierung von Reifen auf die Bedürfnisse rein elektrisch angetriebener Fahrzeuge. Minimaler Rollwiderstand für maximale Reichweite bei kleinstmöglichem Stromverbrauch. Zu Standardreifen lassen sich, das zeigen die Tests unserer Experten, bereits Reichweitenvorteile über zehn Prozent herausfahren. Ist damit das Ende der Entwicklung bereits erreicht, oder was dürfen wir dabei noch erwarten?

Natürlich ist die Maximierung der Reichweite der Hauptanspruch an einen Reifen für Elektrofahrzeuge. Darüber hinaus spielen jedoch auch Themen wie Geräuschentwicklung, Drehmoment und Gewicht eine wesentliche Rolle – Ansprüche, denen ein herkömmlicher Reifen nicht unbedingt gerecht wird. Dank jahrelanger Forschung zur Verbesserung von Rollwiderstand, Abrieb, Geräuschpegel und Sicherheit bei neuen wie auch gefahrenen Reifen sind heute all unsere Reifen für Elektrofahrzeuge geeignet. Darüber hinaus haben wir jedoch auch Reifen speziell für Elektrofahrzeuge entwickelt. Diese optimieren nicht nur die Reichweite des Fahrzeugs, sondern reduzieren durch die Kombination verschiedener Innovationen auch die Geräusche der Reifen im Fahrzeuginneren, verbessern die Energieeffizienz und stellen eine hohe Tragfähigkeit sicher, um das zusätzliche Gewicht der Batterie zu tragen.

Eine Optimierung von Reifen auf niedrigsten Rollwiderstand forderte in der Vergangenheit oft Kompromisse in der Sportlichkeit, im Komfort oder auch bei der Bremsdynamik von Reifen. Wie will Michelin diese Zielkonflikte in Zukunft auflösen?

Wir optimieren den Rollwiderstand eines E-Reifens nur dann, wenn auch die notwendigen Sicherheitsaspekte, wie kurze Bremswege und Grip, erfüllt werden können. Nur wenigen Premium-Reifenherstellern gelingt es, diesen klassischen Zielkonflikt zu meistern. Der Michelin Pilot Sport EV ist das perfekte Beispiel, dass ein hohes Maß an Sicherheit und Handling mit gleichzeitiger Reichweitenoptimierung einhergehen kann.

Für die Einhaltung der kommenden Euro-7- Schadstoffbewertung werden künftige Fahrzeugemissionen erstmalig ganzheitlich betrachtet. Bei deutlich geringeren Partikelemissionen durch Abgase treten nun Non-Exhaust Emissions wie Bremsen- und Reifenabrieb stärker in den Vordergrund. Wie stellt sich Michelin zukünftig auf, um dem zu begegnen?

Michelin begrüßt die Aufnahme des Reifenabriebs in die Euro-7-Bewertung. Wir sind davon überzeugt, dass dies ein effizienter Weg ist, um den Abrieb von Reifen zu verringern und gleichzeitig die Reifen mit den größten Umweltauswirkungen vom Markt zu nehmen. Deshalb arbeiten wir bereits seit mehreren Jahren mit der europäischen Reifenindustrie zusammen, um eine repräsentative Prüfmethode zu entwickeln. Auch eine detaillierte Definition des Abschnitts zum Thema Neufahrzeuge und Reifen steht derzeit noch aus. Es gibt also noch viel zu tun. Michelin konnte die Menge der Reifenabriebpartikel zwischen 2015 und 2020 bereits um fünf Prozent reduzieren. Auch in Zukunft werden wir weiter daran arbeiten, unsere Produkte zu verbessern.

Michelin und Automobilrennsport – zwei untrennbare Begriffe. Doch stehen Autorennen mit Nachhaltigkeit und Ökologie nicht im krassen Widerspruch? Welche Ansätze verfolgt Michelin, Motorsport für die Zukunft umweltverträglicher zu machen?

Nachhaltigkeit und Motorsport gehen für uns Hand in Hand. Der Rennsport ist für uns ein reales Forschungslabor, das eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung neuer und nachhaltiger Lösungen spielt. So können wir durch den Motorsport beispielsweise Innovationen wie Elektromobilität weiter vorantreiben oder die Integration nachhaltiger Materialien in unseren Reifen beschleunigen. Michelin ist überzeugt, dass der technologische Fortschritt eine Antwort auf die ökologischen Herausforderungen ist, mit denen wir heute konfrontiert sind. Insbesondere das 24-Stunden-Rennen von Le Mans bietet uns seit jeher eine einzigartige Gelegenheit, nachhaltige Innovationen zu entwickeln. So konnten wir hier in diesem Jahr einen Rennreifen vorstellen, der zu 63 Prozent aus nachhaltigen Materialien besteht. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem 100 Prozent nachhaltigen Reifen.

Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Simulation am Computer bei der Entwicklung von Reifen: Lässt sich dadurch nicht der ökologische Fußabdruck beträchtlich verkleinern?

Die neuen Michelin-Pilot-Sport-Endurance-Reifen, die wir speziell für die Hypercar-Klasse des 24-Stunden-Rennens in Le Mans konzipiert haben, wurden vollständig am Simulator entwickelt. Dieses Verfahren ist effizient und umweltschonend: Entwicklungszeiten können halbiert, Rohstoffverbrauch und CO₂-Emissionen reduziert und die Umwelt geschont werden. Als Vorreiter in diesem Bereich sammeln und analysieren unsere Michelin-Motorsportteams systematisch alle Daten vor und nach einem Rennen. Diese Daten helfen dabei, das Verhalten der Reifen genau zu simulieren, selbst in extremen Einsatzsituationen. Die virtuelle Simulation gewinnt auch für den Serienmarkt zunehmend an Bedeutung, da so sowohl der Ressourcenverbrauch wie auch die CO₂-Emissionen erheblich reduziert werden können. Michelin hat daher einige seiner neuesten Produktreihen (Pilot Super Sport, Pilot Sport Cup) für Hersteller wie Ferrari, AMG, Porsche, Corvette, Lexus und Ford Performance am Simulator entwickelt.

Auf dem Weg zur Klimaneutralität spielt auch die Reifenherstellung eine große Rolle. Was muss sich in den Werken ändern, um dieses Ziel zu erreichen?

Wir arbeiten hart daran, den ökologischen Fußabdruck unserer Industriestandorte zu senken, beispielsweise beim Verbrauch von Lösungsmitteln und Energie, bei entstehenden Abfällen und CO₂-Emissionen sowie beim Wasserverbrauch. Seit 2005 konnten wir diese Verbräuche bereits halbieren. Bis 2030 werden wir die CO₂-Emissionen unserer Produktionsstandorte im Vergleich zu 2010 um weitere 50 % reduziert haben. Um dies zu erreichen, investieren wir in Solaranlagen oder in die Umstellung auf elektrische Reifenkochung. Bis 2050 sollen Michelin-Werke dann vollständig klimaneutral sein und ihren Wasserbedarf unabhängig von öffentlichen Wassernetzen decken.

Sie engagieren sich in einem Joint Venture mit Faurecia auch bei der Weiterentwicklung der Wasserstofftechnologie. Was ist da Ihre Motivation?

Ich bin davon überzeugt, dass Wasserstoff eine Schlüsseltechnologie auf dem Weg zur emissionsfreien Mobilität darstellt – gerade in Einsatzbereichen, bei denen es um weite Strecken und hohe Leistungsanforderungen geht, wie etwa im Güter- oder Personentransport. Deshalb spielt er seit mehr als 20 Jahren eine wichtige Rolle für Michelins Vision einer sauberen Zukunft. Auf lange Sicht wird Wasserstoff uns in die Lage versetzen, drei große Herausforderungen anzugehen: die Verbesserung der Luftqualität, die Verringerung der Kohlenstoffemissionen und die Beschleunigung der Energiewende. Aus diesem Grund hat sich Michelin dem Ziel verschrieben, bis 2030 ein Drittel seines Profits außerhalb des Reifensektors zu erwirtschaften und so Zukunftstechnologien wie Wasserstoff weiter zu erforschen.

Vita

Cyrille Roget ist ein promovierter Strömungsdynamiker und ist seit 1997 bei Michelin tätig, wo er verschiedene Positionen in der Forschung und Entwicklung für Lkw-, Flugzeug- und Pkw-Reifen innehatte. Im Jahr 2012 wurde er Michelin North America Marketing Director für Pkw-Reifen. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich trat er dem Team der Kommunikationsabteilung als Direktor für Wissenschafts- und Innovationskommunikation bei.

Neue Herausforderung

Michelin muss auf dem Weg zur CO₂-Neutralität viele Hürden nehmen – zumal Autos immer größer und schwerer werden.

Eigentlich ist es im Zuge zunehmender Umweltanstrengungen grotesk, aber Tatsache ist, dass speziell die Elektroautos groß und schwer sind. Damit muss sich auch ein Reifenhersteller wie Michelin auseinandersetzen. Eine wichtige Gegenmaßnahme: die Verringerung des Rollwiderstandes. Dadurch konnten während der Lebensdauer eines Reifens 2021 rund 3,4 Milliarden Liter Kraftstoff eingespart und damit 8,7 Millionen Tonnen CO₂ im Vergleich zu 2010 vermieden werden. Bis zum Jahr 2030 strebt Michelin eine weitere Verbesserung der Energieeffizienz um zehn Prozent an.

Michelin
SAJAD-AHMADIMAJD
Michelin unterstützt Studenten der TU München bei der Entwicklung eines effizienten E-Autos mit rollwiderstandsarmen Reifen.

Da Elektroauto-Fahrern grundsätzlich die Nachhaltigkeit sehr am Herzen liegt, kommt künftig recyceltes Plastik im Reifen zum Einsatz: Durch ein Hightech-Recyclingverfahren können laut Michelin in einem Reifen bis zu 143 Joghurtbecher und rund 12,5 PET-Flaschen verarbeitet werden.

Michelin
Michelin
Die Simulation spielt bei der Entwicklung von Reifen eine entscheidende Rolle, besonders für Motorsport-Pneus.

Um weitere Technologien erproben zu können, unterstützt Michelin auch ein Projekt der TU München: Das TUfast-Eco-Rennteam hat das Elektroauto Muc022 entwickelt, das möglichst energieeffizient unterwegs sein soll, um so auf maximale Reichweite zu kommen. Auch hier kommt mit dem Michelin Urban Concept ein Reifen zum Einsatz, der durch geringen Rollwiderstand die Reichweite erhöhen sollen.

Die aktuelle Ausgabe
AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024
AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024

Erscheinungsdatum 08.05.2024

148 Seiten