Upgrade für die Mercedes-Elektro-Architektur
800 Volt und neue Akkus für EQS und EQE

Die elektrischen Luxusmodelle EQS und EQE floppen beim Absatz. Mit welchen Technik-Verbesserungen Mercedes gegensteuert, verrät der Baureihenleiter auf einer gemeinsamen Probefahrt.

Interview Mercedes Oliver Röcker
Foto: Mercedes

Die Elektro-Limousinen Mercedes EQS und EQE finden kaum Kunden, obwohl die Konzeption auf Basis der Electric-Only-Architektur EVA II konsequent die Anforderungen von E-Autos berücksichtigt und die Vorteile gut in Szene setzt: Die hervorragende Aerodynamik steigert die Reichweiten und senkt das Geräuschniveau der leisen Stromer weiter, der Federungskomfort passt dazu. Der Absatzschwäche begegnete Mercedes in China mit Preissenkungen. Jetzt folgt technischer Feinschliff, 2025 sogar die Umstellung auf 800 Volt.

Unsere Highlights

Die Neuerungen für die EVA-II-Modelle:

  • Decoupling Unit (DCU) bei Allrad, bis zu sechs Prozent mehr Reichweite
  • Zweiter Kondensator im Kühlkreislauf
  • Akku mit höherer Energiedichte
  • Besseres Pedalgefühl der Bremse
  • Optimierung der Rekuperation
  • Verbesserung des Sitzkomforts im Fond und der Materialqualität
  • Chauffeurs-Position des Beifahrersitzes
  • Einführung 800 Volt-Netz und neuer Akku 2025/26

Unterwegs im EQS mit dem Baureihenleiter

Außer Oliver Röcker fährt heute niemand mit einem batterieelektrisch angetriebenen Luxusklasse-Mercedes die leicht geschwungene Rampe vom so genannten Center of Excellence in Richtung Autobahn hinab. Das edle Auslieferungszentrum, 2002 für den im weiteren Verlauf etwas holperigen Neustart der Marke Maybach eröffnet, dient als Start für eine Ausfahrt mit der jüngsten Evolutionsstufe des Mercedes EQS. Oliver Röcker verantwortet jene Modellreihen, die auf der Electric Vehicle Architecture II (kurz: EVA II) basieren. Gerade mal ein gutes Jahr auf dem Markt, bleibt der Absatz der inzwischen auf vier Varianten (EQE und EQS sowie deren SUV-Ableger) angewachsenen EVA II-Familie arg hinter den Erwartungen von Mercedes zurück. Also folgt jetzt ein eiliges Facelift? "Nein, das nicht. Allerdings verbessern wir die Effizienz des Antriebs weiter und optimieren auch in anderen Bereichen des Fahrzeuges", sagt Röcker, der sich mit Vermutungen über das mäßige Kunden-Interesse zurückhält.

Effizienzgewinn: Vorderer Motor koppelt ab

Bereits in jenen Modellen, die nun ausgeliefert werden (könnten), steckt ein weiterentwickelter Antrieb. So kann nun die vordere der beiden permanenterregten Synchronmaschinen, die beim EQS 580 eine Systemleistung von bis zu 400 kW und 858 Nm ermöglichen, bei Nichtgebrauch sozusagen auskuppeln. "Dazu kommt eine Klauenkupplung zum Einsatz. Dabei ist es wichtig, das Ein- und Auskuppeln maximal sanft zu gestalten, weshalb die Differenzdrehzahl zwischen Motor und Rädern möglichst gering sein muss", erklärt Röcker. Bringt das Bauteil nicht zusätzliches Gewicht? Wäre es also nicht cleverer eine Asynchronmaschine zu nutzen, die ohne Last nicht bestromt wird? Röcker verneint: "Über den gesamten Einsatzbereich ist die Lösung effizienter, bringt uns nochmals bis zu sechs Prozent mehr Reichweite."

Mercedes-EQS-Reichweite wächst weiter

Tatsächlich erreicht der EQS 580 im auto motor und sport-Test einen neuen Bestwert von 601 km. Die Gewichtsdifferenz zum ersten getesteten 580er (der kam 560 km weit, siehe Heft 23/2021) beträgt 46 kg. Dazu trägt sicher auch die Wärmepumpe bei, die nun Einzug in die Architektur gehalten hat. Sie bringt laut Röcker nur in bestimmten Punkten Vorteile, weshalb sie erst jetzt kommt. "Wir haben nun einen zusätzlichen Kondensator in den Wasserkreislauf integriert und nutzen damit die Abwärme des Motors noch effizienter", referiert der Ingenieur, während die stattliche Limousine sanft federnd und bekannt niedrigem Innengeräuschpegel auf der A81 in Richtung Süden rollt. Röcker hat die so genannten Herrenberg-Runde ins Navi diktiert, die zum Repertoire der Mercedes-Entwickler zählt und eine hohe Varianz an Strecken bietet: Autobahn, Ortsdurchfahrten, kurvige Landstraßen, kariöse Fahrbahnabschnitte. Viel Zeit lässt der Terminkalender des Chef-Entwicklers nicht, der Akku des EQS hingegen würde durchaus einen kleinen Ausflug nach Zürich gestatten, zurückhaltend gefahren, womöglich auch wieder retour ohne zu laden.

Zwischen den Achsen des Vorserienmodells steckt bereits der aus dem SUV bekannte Akku mit 118 statt 108,4 kWh nutzbarer Kapazität. Beim EQS 450+ SUV stieg damit die Reichweite von 671 auf 720 km, die Homologation der Limousine steht noch aus. Der kleine Akku fasst künftig rund 96 statt 90,56 kWh. Das Verhältnis von 8:1:1 der Nickel-Mangan-Kobalt-Zellen bleibt unverändert, doch es ist gelungen, bei gleicher Baugröße mehr Aktivmaterial zu verwenden. Und die Zellform? Bleibt gleich: Prismatisch oder Pouch, je nach Lieferfähigkeit der Zulieferer.

Rekuperation mit Bremspedal

Dieser EQS bietet ein ordentliches Pedalgefühl der Bremse. Kein Stochern im Nebeln, bis du kurz vor dem Fahrzeugboden den Druckpunkt findest, sondern ein verbindliches, dennoch komfortables Entgegenkommen. Sehr schön. "Dazu haben wir die hydraulische Übersetzung der Bremse verändert, also den Durchmesser des Hauptbremszylinders vergrößert und den des hinteren Kolbens verkleinert", referiert der Ingenieur. Zudem betont er, dass die Rekuperation auch beim Betätigen des Bremspedals aktiv ist (außer bei einer Vollbremsung) und ist stolz auf die hohe Rekuperationsleistung von "bis zu 290 kW".

Auch hier fanden Röcker und sein Team Verbesserungspotenzial. Um länger rekuperieren zu können, ohne die Bremshydraulik mit hohem Energieaufwand präventiv zu befüllen, etwa für drohende ESP-Eingriffe, wird nun ein anderes, präziseres Eingangssignal verwendet. Bislang galt ein bestimmtes Motordrehmoment im Schiebebetrieb als Bemessungsgröße, nun kann die Raddrehzahl inklusive der damit vernetzten Sensorik genutzt werden. Unterdessen huscht der EQS über eine schmale Straße durch ein Waldstück, die sich augenscheinlich in einem sehr schlechten Zustand befindet. Nur: Es dringen lediglich zarte Stöße bis zu den Insassen durch, die Karosseriebewegungen sind spürbar, störendes Nachschwingen bleibt aus – typisch für den EQS. Röcker bittet, hinten rechts Platz zu nehmen, denn durch eine Art Topper (kennen Sie vielleicht vom Bett zuhause) habe man die "Einsitzweichheit" deutlich verbessert, betont der Entwickler. Und Sie können nun bei der nächsten Scrabble-Partie mit diesem Wort groß rauskommen.

Noch mehr Komfort und Ausstrecken im Fond

Wie auch immer, der Sitzkomfort fällt luxusklassig aus, wenngleich es da zuvor eigentlich nichts zu bemängeln gab – ebenso wenig am Platzangebot. Wenn doch: Nun schiebt sich der Beifahrersitz per Tastendruck in eine Chauffeurs-Position, der an der Lehne montierte Monitor passt sich selbstverständlich an. Überdies verwendet Mercedes künftig höherwertige Materialien, beispielsweise eben an den Rückenlehnen (Zierleisten, Lichtelemente), integriert weitere digitale Features (unter anderem Youtube), reagiert auf Kundenwünsche (es wurde eine Akkufüllstandsanzeige in Prozent gewünscht). Lediglich der Einstieg in den Fond fällt für den einen oder anderen konservativen Limousinen-Kunden nicht standesgemäß aufrecht genug aus, was aus aerodynamischen Gründen schwungvoll ausgeführten Dachlinie geschuldet ist.

Aber: Laut Röcker bringen sieben cw-Punkte, also die zweite Stelle hinter dem Komma, ein Prozent Reichweite nach WLTP. Und die EVA II-Modelle seien schließlich für die Langstrecke gemacht. Auf gar nicht mal so lange Sicht jedoch, droht die elektrische Luxusklasse ungeachtet aller Maßnahmen ins technologische Hintertreffen zu geraten. Ab 2025 starten deutlich kompaktere E-Modelle mit dem Stern auf der MMA-Plattform – und die verfügt über ein 800 Volt-Netz, was nochmals kürzere Ladezeiten ermöglicht.

800 Volt für schnelles Laden wie beim EQ-CLA

Was tun, Herr Röcker? "Nun, darstellbar wäre das auch bei EVA II. Und das Ziel bleibt: Die Architektur soll auch weiterhin an er technologischen Spitze bleiben." Auch wirtschaftlich? "Schon möglich. Klar ist aber: Ohne neuen Akku bringt das nichts, denn dessen Zellchemie muss die hohe Spannung auch in kurze Ladezeiten umsetzen." Und dann wird’s wieder still im EQS.

Vermutung: Im Rahmen einer größeren Modellpflege Ende 2025, Anfang 2026 könnte diese Maßnahme erfolgen. Die Limousine hält wenig später vor dem Center of Excellence. Dort übernehmen gerade zwei Kunden jeweils eine S-Klasse, ein weiterer eine rustikale G-Klasse. Alle mit Verbrennungsmotor. Also die Autos, natürlich.

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Fazit

An Effizienz fehlte es den EVA II-Modellen nicht, doch Mercedes arbeitet weiter an der Technik, will ultimative Reichweite bieten. Dazu kommt ein deutlich verbessertes Pedalgefühl der Bremse sowie ein in Details hochwertigeres Interieur. Wenn es dann weiterhin nicht läuft, kann es wohl nur an einem Punkt liegen: dem Design. Zu mutig für das konservative Segment der Luxusklasse?

Die aktuelle Ausgabe
AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024
AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024

Erscheinungsdatum 08.05.2024

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