Interview mit Prof. Christoph Herrmann
„Nachhaltigkeit wird zu einem neuen Normal“

Hat die Autoindustrie die Nachhaltigkeitswende verschlafen? Christoph Herrmann, Professor für Nachhaltige Produktion und Life Cycle Engineering an der TU Braunschweig, erklärt, wie die Branche konkurrenzfähig bleibt.

Christoph Herrmann
Foto: TU Braunschweig
Was bedeutet "nachhaltiges Wirtschaften"?

In den letzten drei Jahrzehnten dominierte der Begriff "nachhaltige Entwicklung", verbunden mit den drei Dimensionen Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft, das Verständnis der Akteure. Gerade in den letzten Jahren wurde deutlich, dass trotz ressourcen- und energieeffizienterer Produkte dieses Verständnis in Zeiten einer immer noch dynamisch wachsenden Weltbevölkerung und steigender Lebensstandards in Industrie- und Schwellenländern nicht mehr ausreicht. Wir verstehen, dass wir zwischen Nachhaltigkeit und einer nachhaltigen Entwicklung unterscheiden müssen. Letzteres impliziert die relative Verbesserung von Produkten. Ein Hersteller entwickelt also beispielsweise ein Auto mit zwei Prozent weniger Kraftstoffverbrauch. Wenn dieser Hersteller aber gleichzeitig dadurch deutlich mehr Autos verkauft, werden die Auswirkungen auf den Klimawandel weiter steigen. Nachhaltigkeit dagegen ist absolut. Entsprechend sehen Entscheidungsträger ein, dass die Dimensionen nicht nebeneinanderstehen, sondern die Wirtschaft in die Gesellschaft und diese wiederum in eine intakte Umwelt eingebettet ist.

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Was bedeutet dieser Denkansatz konkret?

Heizen und Kühlen von Gebäuden, Transport und die Produktion von Gütern sind die drei großen Sektoren, die zum Klimawandel beitragen. Der Transportsektor sticht aktuell besonders heraus, weil er am meisten von fossilen Energieträgern abhängt. Die sind bekanntlich nicht nur endlich, sondern deren Verbrennung setzt besonders viel Treibhausgase frei. Die Technologie der Verbrennungsmotoren ist inzwischen derart ausgereift, dass eine Effizienzsteigerung kaum noch möglich ist. Dann muss eine neue Technik folgen. In dieser Situation befindet sich gerade der Automobilsektor. Der Kraftstoffverbrauch macht bei einem Verbrenner rund 80 Prozent der klimarelevanten Emissionen aus. Mit E-Autos und dem gleichzeitigen Ausbau der erneuerbaren Energien sinkt dieser Wert in der Nutzungsphase quasi gegen null.

Aber gleichzeitig steigt der CO2-Fußabdruck in der Produktionsphase – ist das nachhaltig?

Nicht automatisch. Die Herstellung von Batterien ist energieintensiv. Für die Automobilindustrie bedeutet das, dass die Entwicklungskapazitäten jetzt in die Batterieentwicklung und -produktion gesteckt werden müssen. Auch das Thema Recycling wird immer wichtiger. Nicht nur, weil durch die Batteriematerialien der Wert des Produkts steigt, sondern auch, weil die Stoffe und die ganze Elektronik nicht mehr so trivial in Kreisläufe zurückzuführen sind. Für die Hersteller sind das extrem herausfordernde Zeiten – nicht nur im Hinblick auf den Innovationsdruck, sondern auch, was Kommunikation zum Kunden und in die Gesellschaft insgesamt anbelangt. In den verschiedenen Ländern dieser Welt haben wir große Unterschiede im Strommix. In Australien zurzeit noch überwiegend Kohle-, in Frankreich Atomstrom, in Norwegen Energie aus Wasserkraftwerken. Als Hersteller verkaufe ich also ein Auto, und je nachdem, wo ich es lade, hat es einen unterschiedlichen Fußabdruck. Erklären Sie das mal Ihren Kunden.

Viele Firmen wollen deutlich vor 2050 klimaneutral sein. Warum auf einmal diese Eile?

Es findet ein Umdenken statt. Ökologische Nachhaltigkeit wird zu einem neuen Normal. Die Autoindustrie läuft sonst Gefahr, die Legitimation in der Gesellschaft zu verlieren. Es wächst eine Generation heran, die ein umfassendes und tief gehendes Nachhaltigkeits-Verständnis besitzt. Diese Generation sind die Kunden von morgen. Und diese Kunden stellen neue Ansprüche an die Produkte und die produzierenden Unternehmen. Wer erfolgreich bleiben will, muss sich an die Spitze dieser Bewegung setzen.

Haben Sie die Sorge, dass speziell die deutsche Automobilindustrie zu spät kommt?

Wenn ich ein Thema zu spät angehe, verliere ich Innovationskraft. Unternehmen, die sich des Themas Nachhaltigkeit nicht glaubhaft annehmen, werden es außerdem schwer haben, die besten Mitarbeiter zu bekommen. In anderen Ländern schläft man nicht. Gleichwohl haben die deutschen Hersteller den Ernst der Lage verstanden und Nachhaltigkeit wird fester Bestandteil aller Innovationen.