Entwicklungsprozess des Jaguar I-Pace
In vier Jahren vom Concept-Car zur Serie

Zwischen Concept-Car und Serienauto liegen mitunter Welten. Anders beim Jaguar I-Pace: Der durchlief in knapp vier Jahren die Entwicklung vom leeren Blatt Papier bis zur ersten Auslieferung.

Es gibt sie ja, die Geschichten aus der automobilen Frühzeit. Ingenieurs- oder Designerteams, die in einer stillen Ecke der Werkshallen unter dem Radar der Unternehmenshierarchie ein innovatives Konzept zur Serienreife entwickelt haben.

Vorbei, diese Zeiten? Nicht ganz. Gut, es sind der Vorstandschef und sein Entwicklungsvorstand, die da im malerischen Shakespeare-Städtchen Stratford im „Lambs“ beim Abendessen zusammensitzen. Jaguar-Boss Ralf Speth diskutiert mit seinem obersten Ingenieur Wolfgang Ziebart das Thema Elektromobilität. Tesla erobert Anfang 2014 das Oberklassensegment. In Europa herrscht beim Thema Elektrofahrzeuge weitgehend Ruhe. Viel Überzeugungsarbeit muss Ziebart nicht leisten, Speth gibt grünes Licht. Und der Aufsichtsrat? Der wird erst „sehr viel später“ über das neue Modell, das kommen soll, informiert.

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Eingeschworenes Team am Campus

Das Entwicklungsteam kann im Prinzip am Tag drauf loslegen. Bei Jaguar ist gerade der Prototyp des Hybrid-Supersportwagens C-X75 fertiggeworden, der mit zwei Elektromotoren und einem mit Turbo und Kompressor aufgeladenen Vierzylinder eine spektakuläre Systemleistung von 862 PS und 350 km/h Höchstgeschwindigkeit auf die Straße bringt. Das Team aus 50 Mitarbeitern hat dabei Erfahrungen mit der Elektrifizierung gesammelt und stürzt sich auf die nächste Aufgabe: das Konzeptfahrzeug, das später I-Pace heißen wird.

Um zu unterstreichen, dass die Entwickler größtmögliche Freiheiten genießen, werden sie 20 Meilen entfernt vom Jaguar-Hauptsitz untergebracht: an der University of Warwick. Campus-Atmosphäre, flache Hierarchien, kurze Kommunikationswege: Das sind die Grundzutaten. Um das Projekt zu beschleunigen, werfen Ziebart und das später auf 150 Mitarbeiter aufgestockte Team in der Automobilindustrie heilige Prozesse über Bord. Nicht mehr alle zwei Wochen werden die Arbeitsergebnisse evaluiert, sondern täglich. Über Nacht werden die Daten in Indien überprüft, schon am nächsten Morgen liegen die Ergebnisse der Berechnungen vor.

Entwicklungsprozess Jaguar I-Pace, Campus Uni Warwick
Jaguar
Das Entwicklungsteam wurde an der University of Warwick untergebracht. Das kleine Städtchen in der Nähe vom Jaguar Hauptsitz hat nur knapp über 30.000 Einwohner.

„Nicht gekannte Designfreiheit“

Das Ergebnis lässt sich schon nach gut zweieinhalb Jahren sehen: Im November 2016 feiert auf der Los Angeles Motor Show der I-Pace Concept seine Premiere. Das Auto trägt die Handschrift von Jaguar-Chefdesigner Ian Callum, der die „bis dahin nicht gekannte Designfreiheit“ genutzt hat, die ein E-Fahrzeug bietet. Viel Platz zwischen den Rädern und ein üppiges Raumangebot – und „man kann die Insassen dorthin platzieren, wo man sie gerne haben möchte: selbstverständlich weit vorne“, sagt Callum. Durch das Cabforward-Profil und die sehr stimmigen Proportionen kommt der I-Pace deshalb für den Designchef „dem Supersportwagen C-X75 im Profil näher als einem konventionellen SUV“.

Dass das Concept-Car anders als sonst bei Jaguar üblich nicht das Buchstabenkürzel C-X für Konzeptfahrzeuge trägt, sondern den Namen I-Pace, ist ein erster Fingerzeig: Viel ändern wird sich am „weltweit attraktivsten Elektroauto“ (Callum) bis zur Serienreife nicht mehr. Die schwungvoll geformten vorderen Radläufe, der kräftige Hintern und die markante Gürtellinie sind am seit 2018 ausgelieferten Serienauto ebenso stilprägend wie die kurze Motorhaube und die bis zu 22 Zoll großen Räder. Der Kühlergrill ist nach innen gebogen, um den Luftwiderstand zu senken. Um die für die Batterien überlebensnotwendige Kühlung zu gewährleisten, öffnen Lamellen nur dann, wenn Frischluft benötigt wird.

Im Inneren setzt sich die großzügige Linie fort. „Der Fahrer steht im Zentrum des Raumerlebnisses“, so Callum. Das Fahrzeugkonzept bietet den Passagieren viel Bewegungsfreiheit – eine Mixtur, die bei den Interessenten ankommt: Die Lieferzeiten sind lang.

Mit der Ruhe bei europäischen Elektrofahrzeugen der Oberklasse ist damit Schluss. Von einem Abendessen bis zum Serienauto in vier Jahren? Geht doch.

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AUTO MOTOR UND SPORT 10 / 2024
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Erscheinungsdatum 25.04.2024

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