Schon getestet
Aktive Sturzverstellung bei Lamborghini

Um das Agilitäts-Potenzial künftiger Sportwagen den Fahrer intensiver erleben zu lassen, entwickelt Lamborghini eine Radaufhängung mit aktiver Spur-Sturz-Verstellung. auto motor und sport durfte bereits einen Technik-Träger auf Huracàn-Basis fahren.

Der Sturz eines Rades bezieht sich auf dessen Neigung in Bezug zur Straße. Wie der Reifen etwa in Kurven über die vorgegebene Achsgeometrie auf den Asphalt gedrückt wird, ist entscheidend für dessen Auflagefläche und Kraftübertragung. Normalerweise wird der Sturz aller vier Räder bei einer sogenannten Achsvermessung fest eingestellt. Das gilt auch für die vier Spurwinkel, also die Richtung der Räder im Vergleich zur Fahrtrichtung. Vor kurzem meldete Porsche ein System zum Patent an, das diese Achsgeometrie aus Spur und Sturz während der Fahrt verändern kann. Lamborghini stellt nun ein ähnliches System vor und lässt es uns sogar testen. Einen ersten Eindruck schildert das folgende Erlebnis:

Unsere Highlights

Fahrdynamik mit und ohne Elektronik

Einlenken mit rund 120 km/h, Lenkung ziehen, schwupps, das Heck kommt, bricht aus, Gegenlenken, Gegenpendler, und noch einer, Reifen quietschen, Reifen qualmen. Nicht weiter verwunderlich. Platz ist auch da. Also darf der Lamborghini Huracàn Evo RWD durchaus ein paar Pirouetten drehen. Zumal ja alle Fahrdynamikregel- und Stabilisierungssysteme in die Pause geschickt wurden. Nur das ABS nicht. Der Auftrag lautet: Hier auf der großen Fahrdynamikfläche des Nardò Technical Center im Süden Italiens ein paar Standard-Übungen wie Slalom, doppelter Spurwechsel, Lastwechsel und Überlenken durchführen, erst ohne, dann mit Elektronik.

Dass so ein Mittelmotor-Sportwagen mit Hinterradantrieb und 610 PS starkem V10-Saugmotor von Natur aus nicht unbedingt zu den Agilitäts-Pazifisten zählt – wer hätte es gedacht. Ach ja, ein paar Runden auf dem herrlich rhythmischen, topografisch allerdings durchaus anspruchsvollen Handlingkurs stehen auch noch auf dem Programm. Lamborghinis Technik-Chef Rouven Mohr verspricht ein neuartiges Fahrerlebnis, sobald die Elektronik aktiv ist, eine Weiterentwicklung des Fahrdynamik-Reglers LDVI: "Bislang definierte das Limit des Fahrers den Fahrspaß, weniger das Auto. Das wollen wir ändern und zugleich demonstrieren, dass wir einigen Bereichen durchaus Technologie-Vorreiter sein können".

Software ändert das Fahrerlebnis

Dann referiert er mit Stolz über die Software, die nun noch schneller und präziser prognostizieren kann, was der Fahrer im unmittelbar folgenden Streckenabschnitt erleben will und welches Maß an Unterstützung er benötigt. "Das Auto muss den Fahrer verstehen, nicht umgekehrt – das war gestern", beschreibt Mohr das Entwicklungsziel. Was zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar ist: Mohr verschweigt etwas. Kurzer Boxenstopp, ein Techniker beugt sich ins Auto, betätigt einen Kippschalter, tippt auf einem flugs angeschlossenen Laptop rum. Jetzt das ganze Programm nochmal. Wechsel von einem Extrem ins Nächste. Der Huracàn absolviert mit ungerührter Selbstverständlichkeit alle Tests erheblich schneller, wenngleich es schwerfällt, die Geschwindigkeitsdifferenz exakt zu beziffern, da es keinen definierten Versuchsaufbau gibt.

Klar ist jedoch: Das Überlenken endet nicht mehr in einem Dreher, verheddert sich allerdings ebenso wenig in den Fängen der Elektronik. Der Lamborghini folgt einfach dem Lenkwinkel, verzahnt sich dabei direkt mit dem Fahrer, setzt den Lenkbefehl beinahe schon etwas hibbelig um. Ins Cockpit rauschen unterdessen viel nützliche Informationen von Vorder- und Hinterachse, du spürst es in Händen und Hintern, fühlst dich keinesfalls bevormundet, sondern bist dir sicher, dass du es bist, der das Tempo mitgeht.

Feed-Forward statt Feedback

Ähnliches gilt in den anderen Disziplinen, bei denen der Lamborghini zwar mit sehr zackigen aber durchaus nachvollziehbarem Fahrverhalten gefällt. "Wenn man bislang von Feedback sprach, trifft es nun Feed-Forward besser", pointiert Mohr. Okay, ein bisschen eckig fühlt sich der Huracàn beim Umsetzen schon an, was laut dem Technik-Chef dem Umstand geschuldet ist, dass die Reifen dem höheren Fahrdynamik-Potenzial noch nicht angepasst wurden. Er betont allerdings auch, dass man hier nicht von einer Technik spreche, die erst in 20 Jahren die Serienreife erlangt – und kommt dann mit der ganzen Wahrheit um’s Eck, noch bevor es auf den Handlingkurs geht: "Der Fahrdynamikregler ist die Grundvoraussetzung, um das Potenzial einer neuen Hardware optimal zu nutzen.

Dieses Fahrzeug verfügt über eine Radaufhängung an der Hinterachse, die aktiv Spur und Sturz anpasst." Hoppala. Basis des Systems ist ein aktuierter Radträger, dazu kommt eine konventionelle Mehrlenker-Achskonstruktion. Das Bauteil wiegt mehr als eine Hinterachslenkung (exakte Angaben gibt’s noch nicht, zudem folgen in den nächsten Entwicklungsschritten noch Maßnahmen zur Gewichtsreduzierung), doch laut Mohr überwiegen die Vorteile bei weitem. So kann die Spur in einem Fenster von minus 6,6 bis plus 6,6 grad variieren, der Sturz zwischen minus 2,5 bis plus 5,5 Grad – und das mit einer Stellgeschwindigkeit von 60 Grad pro Sekunde. Dadurch verändert sich die Aufstandsfläche des Reifens. Bislang eher kegelförmig, verringert sie sich in Summe bei Kurvenfahrt deutlich, obwohl sie beim belasteten Rad ansteigt.

Nun fällt die Aufstandsfläche eher rechteckig aus, bleibt auch bei Kurvenfahrt hoch. Bei identischen Reifen ergibt das ein bis zu 25 Prozent Grip-Niveau. Der Technik-Chef betont allerdings, dass das nur in Verbindung mit dem neuen Fahrdynamik-Regler Sinn ergibt: "Das Fahrverhalten muss sich natürlich anfühlen, das Auto soll als eine Art neuronale Verlängerung des Fahrers funktionieren." Okay, das klinge womöglich etwas esoterisch, schiebt Mohr noch hinterher, doch irgendwie hat er ja Recht. Auch wenn der Fahrcharakter Huracàn im Lauf seiner zehnjährigen Bauzeit erheblich an Agilität, Direktheit und Natürlichkeit gewonnen hat, geht dieser Technikträger noch einen ganzen Schritt weiter. Eigentlich noch weiter, denn im Vergleich zum aktuellen Regelsystem soll die neue Technik zwei Drittel leistungsfähiger arbeiten. Schade nur, dass der aktuelle Serienstand der Software nicht zum direkten Abgleich zur Verfügung steht.

Ab auf die Rennstrecke

Dafür aber der Handlingskurs, auf dem die Lamborghini-Profi-Fahrer 2,5 Sekunden schneller unterwegs sind als mit einem aktuellen Modell. In Imola konnten 2,2 Sekunden herausgefahren und auf der Nordschleife – gar keiner. Allerdings liegt das daran, dass das reale Auto dort noch nicht fuhr. Im Simulator hingegen sollen fünf Sekunden pro Runde drin gewesen sein. Also raus hinter einem Huracán STO, alles deaktiviert, juhu. Gleich in der unendlichen langen Kurve eins steigt in die Anspannung in den trüben süditalienischen Himmel, denn wenn du da mit Tempo 200 einbiegst, magst du den Mittelmotor-Flieger nicht unbedingt verlieren.

Also frühzeitig Tempo raus, Bremse in Kombination mit Lenkwinkel bringt etwas Leben ins Heck. Doch hey, du kannst schon ein bisschen rumtollen mit dem 610 PS-Keil, auch wenn du nicht optimal drinsitzt, was in diesem Fall in der vorgerückten Trennwand zum Maschinenraum liegt. Die Technik benötigt mindestens ein 48 Volt-Netz, was in dieser Modellgeneration nicht vorgesehen ist. Die Strecke glänzt leicht feucht, also Vorsicht mit allzu zackigen Bewegungen im rechten Fuß, denn das 5,2-Liter-Aggregat schnappt schnell zu. Doch allein wegen des Klangs, diesem anschwellenden Trompetengrollen, das jenseits von 7000/min leicht kippt, ziehst du den Hahn in der Doppel-Rechts auf.

Allmählich arrangierst du dich mit dem ungefilterten Treiben, leistest dir hier und da mal einen zarten Drift. Und schon schwenkt einer die rote Flagge, raus an die Box, Elektronik an. Wieder raus, den V10 durchladen, das Siebengang-Doppelkupplungsgetriebe arbeitet mit der bekannten humorlosen Schnelligkeit. Völlig ungerührt hältst du in Kurve eins, bleibst am Gas, kostest diesen langen Bogen aus, bevor du viel Tempo vor der Spitzkehre rausnehmen musst. Der Huracàn folgt dem STO unbeirrt, wirkt extrem bei sich – und bei seinem Fahrer.

Erstmal alles auf stabil

Schon in diesem Entwicklungsstadium beeindruckt, wie gleichzeitig blitzartig und dennoch natürlich das Auto den Wünschen des Fahrers folgt. Regeleingriffe? Nicht spürbar, allerdings auch so überhaupt keine Rotzigkeit, wie du es dir vielleicht doch hier und da wünscht. Es darf auch mal zucken, das Heck. Mohr erklärt: "Die Programmierung hier ist vorrangig auf Fahrstabilität ausgelegt. Weitere Fahrmodi kommen später." Wann später? Im neuen Huracán Ende 2024? Das wohl nicht, zumindest nicht gleich zum Start.

Lamborghini sieht für die Technik nicht nur, aber speziell in Verbindung mit einem stark elektrifiziertem Antriebsstrang Vorteile, da dann noch das Torque Vectoring an der Vorderachse mit in das Gesamtsystem integriert werden kann. Der Technikträger allerdings vermittelt jedoch schon mehr als nur einen kleinen Eindruck, was die Kombination aus Fahrdynamikregler und aktivem Radträger leisten kann – da überziehst du doch gerne noch mal aus Tempo 120 die Lenkung.

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Fazit

Lamborghini gewährt einen frühen Einblick in die Entwicklungsarbeit, demonstriert am Beispiel des Youngtimers Huracàn, wie der aktive Radträger und die neue Software den Fahrcharakter verändern kann. Tempo und Stabilität erreichen ein neues Niveau – und das bei einem erstaunlich selbstverständlich wirkenden Fahrzeugreaktionen.

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AUTO MOTOR UND SPORT 10 / 2024
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Erscheinungsdatum 25.04.2024

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