Schaeffler-Paravan Space Drive
AMG C63 ohne Lenksäule

Ein mittelständisches Unternehmen auf der schwäbischen Alb wird zum Schlüssel fürs autonome Fahren. Dabei hatte alles mit behindertengerechten Autos angefangen. Jetzt baut Paravan selbst Rennwagen ohne Lenksäule und Zulieferer sowie Autohersteller stehen Schlange.

Schaeffler Paravan Space Drive Mercedes AMG C63 Hockenheim
Foto: Schaeffler Paravan Technologies

1998 baut Paravan die ersten behindertengerechten Fahrzeuge. Gründer Roland Arnold setzt früh auf Steuerungen ohne Lenkrad – die wenigsten seiner Kunden können eines bedienen. Joysticks oder ähnliches wiederrum können keine Lenksäule drehen, eine elektrische Betätigung am Lenkgetriebe ist nur logisch, zur Übertragung der Signale genügen Kabel (steer by wire).

Aber für die Zulassung muss das System den Vorgaben der ISO 26262, ASIL-D entsprechen – also redundant sein. Heute sorgen beim Space Drive getauften System drei Signalgeber am Steuer dafür, drei Prozessoren sitzen in der CPU und das System trifft eine Zwei-aus-Drei-Entscheidung. Stimmen die Signale nicht überein bzw. werden zu große Abweichungen ermittelt, kommt vom System eine Fehlermeldung. Die Funktionssicherheit ist dann jedoch immer noch gewährleistet, selbst wenn nur mehr ein Signal nutzbar ist. Sobald ein Fehler auftritt, fordert ein Warnton zum Aufsuchen der Werkstatt auf. Das ist allerdings laut Hersteller bislang noch nicht vorgekommen. Und so konnte die Paravan-Flotte bis heute eine Milliarde (Test-)Kilometer mit Space Drive sammeln, 2016 wurde das 5.000. Fahrzeug an eine Kundin übergeben.

Unsere Highlights

Heute sind die vielen Kilometer Paravans größter Schatz. Denn die säulenfreie Lenkung hat zu viele Vorteile, um sie ausschließlich für behindertengerechte Fahrzeuge zu verwenden: keine Platzprobleme im engen Motorraum, kein Aufwand mehr bei der crashgerechten Unterbringung in Links- und Rechtslenkern mit jeweils eigenem Crashtest für die Zulassung, Flexibilität bei der Positionierung des Steuers.

Drive by wire ist Voraussetzung fürs autonome Fahren

Der Megatrend der Autoindustrie macht Arnolds Space Drive zur Schlüsseltechnologie: Egal welcher Algorithmus oder welche künstliche Intelligenz das Auto der Zukunft steuert – am Ende gibt er für die Lenkung nur elektrische Signale aus. Die Lenksäule hilft da nicht, weil an ihrem oberen Ende im Zweifel keiner mehr sitzt. 2018 schlägt sich die Bedeutung von Arnolds Technologie in der Gründung eines Joint Ventures mit dem Zulieferer Schaeffler nieder: Das von Paravan entwickelte Space-Drive-System überträgt er komplett in das Gemeinschaftsunternehmen Schaeffler Paravan Technologie GmbH & Co. KG. Es wird dort industrialisiert. Das macht Roland Arnold reich, aber nicht ruhig: Er treibt die Entwicklung von Space Drive weiter voran, investiert in Rennteams – um die Technik zu verstehen.

Denn der Schritt, der Space Drive mit einem Joy Stick noch fehlt, ist das Feedback: Der Fahrer erhält von einer normalen Lenkung Informationen, wo die Räder rollen, auf welchem Untergrund, wo es Quer- oder Längsrillen gibt. Nirgends wird das so deutlich wie auf der Rennstrecke. Die Piloten erkennen am Feedback der Lenkung, ob sie die Curbs touchieren, aber auch ob ihr Wagen untersteuert, ob die Reifen verschlissen sind. Weil die Räder Kräfte in die Lenkung geben, die sich bis ins Steuer fortpflanzen – über die Lenksäule. Wenn die fehlt, braucht es einen anderen Mechanismus. Bei Space Drive ist das ein Elektromotor an dem Stück – tja – Lenksäule, das noch übrig ist, direkt am Lenkrad. Der Motor setzt den Lenkbewegungen einen angemessenen Widerstand entgegen. Aber was heißt angemessen?

Space Drive im Motorsport

Die Frage soll der Rundstreckeneinsatz der Lenkung ohne Säule beantworten. Aktuell ist Space Drive in der DTM (Mercedes AMG GT3 von Mücke-Motorsport) in der GTC-Race (u.a. Audi R8 LMS GT3) und Rallye-Tests (Ford Fiesta Rallye 5 Team Armin Schwarz) im Einsatz und Bestandteil des Reglements der DTM, GTC Race sowie der DRM

Rennfahrer fühlen Space Drive auf den Zahn, bewerten das Feedback der Steer-by-wire-Lenkung, tragen nach jedem Stint direkt an der Rennstrecke Bewertungen für zahlreiche Parameter in die Maske eines Computerprogramms ein. Die Aussagen der Fahrer werden mit den Daten kombiniert – damit können die Entwickler das System besser verstehen und wichtige Rückschlüsse für die Entwicklung bzw. Optimierung ziehen. Aktuell ist Schaeffler-Paravan wichtiger Lieferant für Daten über Reifen- und Fahrbahnzustände, in Kombination von Lenkparametern (ca. 200 werden erfasst). Die Daten erfasst das Paravan-eigene Unternehmen Softwareinmotion (60 Mitarbeiter).

Die Auswertung soll perspektivisch mit "künschtlicher Intelligenz" erfolgen, sagt Roland Arnold in breitestem Schwäbisch an einem heißen Juni-Tag in Box 30 des Hockenheimrings. Der gut 1,70 Meter große Mann hat sich einen Rennoverall angezogen, trägt das Oberteil an den Ärmeln verknotet um die Hüften, ist viel in Bewegung und immer im Gespräch. In loser Folge schiebt die Boxencrew Mercedes-AMG GT GT3 oder einen Audi R8 GT3 in die Box, wechselt Reifen, zieht Fahrergurte an, nimmt Einstellungen vor. Christian Danner ist auch da, möchte Space Drive ausprobieren. "Willsch Du au fahra?", fragt Arnold, der sich vom Gast als erstes das Ok fürs Duzen geholt hat – "i bin dr Roland". Fahren wollen ja, aber zum ersten Ausprobieren eines Autos ohne Lenksäule bietet sich vielleicht eher ein Straßenfahrzeug an.

Probefahrt im C63 AMG ohne Lenksäule

Es steht auf der Asphaltfläche vor den Boxen. Ein weißer Mercedes-AMG C63. Die Brücke zwischen Rennstrecke und dem straßenzugelassenen Coupé schlägt Axel Randolph. Head of Race Project steht auf seiner Visitenkarte. Er hat schon als Rennleiter für HWA, das Team von AMG-Mitgründer Hans-Werner Aufrecht gearbeitet. "Der Steuermotor von Space Drive liefert drei Größen an das Lenkgetriebe: Lenkwinkel, Lenkgeschwindigkeit und Kraftaufwand", erklärt er. Zu jeder Kombination dieser Werte gehört eine Situation der Räder an der Vorderachse. Algorithmen und Software übersetzen sie in Feedbackkraft des Motors an der Lenkradrückseite. Was sich schon als Vorteil erwiesen hat: Der Feedbackmotor muss nicht alle Kräfte, die auf die Räder einwirken, weitergeben. Das direkte Feedback der konventionellen Lenkung kann nämlich auch für Profipiloten zu viel werden: Zum Beispiel beim Rallyefahren über groben Schotter oder große Steine. Das bringt beträchtliche Unruhe und harte Schläge ins Steuer, was sich auf die Linie überträgt. Das ständige Korrigieren kostet Zeit und ermüdet den Fahrer, was sich sogar an Telemetriedaten ablesen lässt. Das bestätigt auch Armin Schwarz, der das System im Rallyeauto ausprobiert hat.

Wie wird sich das also im Straßenauto anfühlen? Hier fällt Space Drive zunächst vor allem durch ein kleines Kästchen mit Display im Fach der Mittelkonsole auf. Auf den zweiten Blick ist die Lenksäulen-Verkleidung ein wenig voluminöser als üblich. Axel Randolph hat auf den Fahrersitz gebeten. Ist die Zündung aus, dreht sich das Lenkrad ohne Kraftaufwand, quasi leer durch. Widerstand beim Drehen: praktisch null. Ein surrendes Geräusch beim Drehen des Lenkrads macht deutlich, dass der E-Motor mitgedreht werden will, aber Zugriff auf die Lenkung selbst hat der Fahrer erkennbar nicht – kurze Zweifel: Will man ein Auto fahren, in dem man mit dem Steuer offensichtlich nicht die Räder bewegen kann? Andererseits: Eine herkömmliche Servolenkung lässt sich im Stand praktisch gar nicht bewegen. Das ist zwar genau umgekehrt, erlaubt aber genauso wenig Zugriff auf den Lenkwinkel.

Space Drive lenkt wie gehabt

Im Prototyp muss das System erst durch eine Lenkrad-Drehung nach links und rechts kalibriert werden. Dann ist es initialisiert. Beim Druck auf den Startknopf brüllt der V8 kurz auf, grummelt dann friedlich vor sich hin – und das leere Durchdrehen des Lenkrads ist vorbei. Gang rein und beim Lösen der Bremse stellt das AMG-Coupé markentypisch transparent Kraftschluss her. Beim Rangieren auf dem Parkplatz verhält sich die Lenkung unauffällig, eher zu schwer- als zu leichtgängig. Auf den eher kleinen Sträßchen aus dem Gelände des Rundkurses heraus lässt sich der weiße V8 völlig problemlos dirigieren. Auch innerorts bleibt alles komplett unauffällig.

Selbst auf der Bundestraße wirkt Space Drive wie eine bekannte Lenkung aus der Großserie. Gefühlt ist das Steer-by-Wire-System auch hier eher schwergängiger als ein hydraulisches Pendant, aber nicht unangenehm – der Eindruck von Exaktheit wächst dadurch. Was gewöhnungsbedürftig ist: Um die Mittellage ist, wie üblich, ein wenig Spiel, aber hier ist es sehr leichtgängig und wenn das Lenkrad wieder greift, fühlt sich der Übergang seltsam an. Störend ist das nicht, nur anders. Trotzdem sagt Axel Randolph, dass man hierfür an einer Verbesserung arbeite und für ein Serienprodukt natürlich auch die Initialisierung wegfallen muss.

Der Weg zur Großserie

Auf der Rennstrecke scheint Space Drive schon weiter. Rennfahrer Maxi Buhk jedenfalls gibt sich nach seinen Runden im Mercedes-AMG GT3 in Hockenheim überzeugt, dass die Lenkung ohne mechanische Verbindung eine klassische Lenkung übertreffen kann. Auf die Frage, ob sich in den einschlägigen Rennserien bald alle um das System reißen werden, meint er allerdings: "Na ja, im Tourenwagen-Rennsport ist halt das Gewicht immer ein zentrales Thema und da hat Space Drive noch Nachteile". Obwohl die Lenksäule fehlt. Aber das Space Drive-System, Aktorik und Messtechnik, wiegen etwas mehr, weil es zu diesem Entwicklungszeitpunkt um die Weiterentwicklung der Force Feedbacks und die Interpretation der Daten geht. Schaeffler-Paravan arbeite aber auch an diesem Thema. Im Vergleich zur letzten Saison konnte man das Gewicht um etwa 25 Prozent reduzieren. Im Rallyeauto hingegen könnten die Vorteile schon überwiegen – siehe oben. Bei Serienautos auch.

Wann es so weit ist? Schließlich hat die in Westeuropa seit Ende 2020 nicht mehr vertriebene Nissan-Tochter Infinit ihre Limousine Q50 bereits 2013 mit einem Steer-by-Wire-System vorgestellt – das Auto hatte aber noch eine Art Not-Lenksäule, die bei Gefahr automatisch einkuppelte. Von Schaeffler-Paravan heißt es: "Wir sind mit verschiedenen Herstellern im Gespräch" – über eine sogenannte Variant-Option für Hypercars oder Rennwägen. Soll heißen, der Kunde kann dann wählen, ob er mit konventioneller Lenksäule fährt oder mit Steer-by-Wire. Grundvoraussetzung ist eine Straßenzulassung oder die der FIA. An letzterer arbeite man bereits. Genauso wie an der nächsten Generation Space Drive (3). Der Produktionsstart der Add-On-Lösung ist für Mitte 2023 geplant. Sie bildet die Voraussetzung für den Einstieg in die Serienproduktion und die Ausrüstung von Kleinserien im People-Mover-Bereich.

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Ja. So allmählich sollte man sich daran gewöhnt haben, dass alles elektronisch funktioniert, selbst Redundanz.Nein, auf keinen Fall. Keine mechanische Verbindung zwischen Vorderrädern und Lenkrad - das ist doch eine Horrovorstellung.

Fazit

Was als Lenkung per Joystick für Menschen mit Behinderung angefangen hat, könnte bald Standard für alle werden. Die Lenkung ohne Säule hat einfach zu viele Vorteile. Bauraum, Flexibilität, Kosten und Sicherheit.

Letztere stand bei der Entwicklung von Paravan im Vordergrund – dafür war die zulassungsfähige Redundanz unabdingbar.

Die Entwicklung von der Speziallösung für Menschen mit Behinderung zur Universallösung löste der Drang zum autonomen Fahren aus. Dabei bräuchte das auf den ersten Blick gar kein Feedback, denn am Steuer sitzt ja niemand mehr. Aber bei allen Levels unter 5 muss das ja grundsätzlich möglich sein. Und der menschliche Teilzeitfahrer braucht eben eine Rückmeldung übers Steuer.

Wenn das mal auch ohne Lenksäule erfolgt, gibt es für die keinen Grund mehr.