Audi RS 6 Avant im Test
Beruhigendes Rekordvermächtnis

560 PS leistet der Achtzylinder-Biturbo im neuen Audi RS 6 – genauso viel wie der Kompressor-V16 in Bernd Rosemeyers Auto Union Typ R von 1938. 75 Jahre später wagt sich der RS6 auf die historische Autobahn-Rekordstrecke.

Audi RS6, Frontansicht
Foto: Karl-Heinz Augustin

Womöglich wäre alles anders gekommen. Ich säße nicht am Sonntag im Morgengrauen in einem Audi RS6 an der Raststätte Gräfenhausen Ost und wartete auf den Fotografen, und hier stünde ein ganz normaler Einzeltest des Audi RS6. Doch ich las als Zwölfjähriger in Rudolf Caracciolas Autobiografie seine Erinnerungen an den 28. Januar 1938. Las seine Schilderung jenes frostigen Freitagvormittags, an dem er mit seinem Mercedes W 125 mit mehr als 430 km/h über die stellenweise mit Reif überzuckerte Autobahn von Frankfurt nach Darmstadt schoss und wieder zurück. Wie er die Startvorbereitungen von Bernd Rosemeyer in dessen Auto Union Typ R beobachtete. Und wie Rosemeyer von dieser Fahrt nicht mehr zurückkehrte.

75 Jahre später sitze ich im schnellsten Audi diesseits des R8, 305 km/h Spitze, dennoch viel langsamer als Rosemeyers V16-Rekordwagen. 560 PS haben beide, der Audi RS6 wie der Typ R. So unterschiedlich sind die Methoden gar nicht, mit denen die Auto Union-Entwickler der dreißiger Jahre und die Audi-Techniker auf Leistungssuche gehen. Anders als sein Vorgänger mit dem Bi-Turbo-V10 wird der aktuelle Audi RS6 von einem vier Liter großen und von ebenfalls zwei Turboladern angeblasenen Achtzylinder angetrieben. In Rosemeyers Rekordwagen pumpte ein mechanisch angetriebener Kompressor die Ansaugluft in die 16 Zylinder – 6,5 Liter Hubraum, 560 PS, 800 Nm maximales Drehmoment, Vierganggetriebe.

Spielerisch auf über 300 km/h

Die Bedienung jedenfalls dürfte sich etwas vereinfacht haben. Ein Serviceteam, Warmlaufkerzen und Anschieber wie der Typ R vor 75 Jahren benötigt der Audi RS6 nicht. Ein kurzer Druck auf den Startknopf, den Wählhebel der Achtgang-Automatik auf D, das reicht. Wer will, kann die Gangstufen manuell per Wippe reinschnalzen lassen, mit Drive Select Parameter wie Lenkunterstützung, Ansprechen des Gaspedals, Dämpfer oder Auspuffklappen nach Gusto verstellen, alles auf Automatik funktioniert aber auch. Es ist inzwischen fast hell, Autos rauschen an der Raststätte vorbei in Richtung Frankfurt. Los gehts. Der Achtzylinder im Audi RS6 ist auf Betriebstemperatur, der Reifendruck stimmt, Radio und Navi sind aus. Zehn Kilometer geradeaus bis Zeppelinheim.

Im Audi RS6 ist es bei Topspeed ruhig

Es ist Sommer. Kein Reif, kein Seitenwind. Ein X5 zieht vorbei und ein A6; diese Autobahn ist bei Schnellfahrern offenbar beliebt. Tacho 200 sind im Audi RS6 auf der vierspurigen A 5 so unspektakulär wie Tempo 80 am Freitagnachmittag auf dem Kölner Autobahnring. Wenden am Flughafen, eine leichte Kurve, dann geht es geradeaus zurück.

Vollgas, die vier Radsätze und fünf Schaltelemente der ZF 8HP-Automatik im Audi RS6 legen nacheinander die Gänge ein, und schon vor dem Rosemeyer-Parkplatz mit dem Gedenkstein steht die Drei auf der digitalen Tachoanzeige. Beinahe sanft rennt der Audi RS6 auf die 310 zu, Abregelgeschwindigkeit, das blaue Parkplatzschild wischt vorbei, 86 Meter legen wir in jeder Sekunde zurück, der Audi RS6 und ich. Bernd Rosemeyer hämmerte hier mit 120 Metern pro Sekunde vorbei.

Er beschrieb Monate vor seinem Tod die unmenschliche Konzentration, die es erforderte, den Wagen bei diesem Tempo auf der knapp acht Meter breiten Beton-Autobahn zu halten, die winzigen Lenkbewegungen, das Antizipieren der Reaktionen des Autos und die Druckluftwellen unter den Brücken – wenige Sekunden nur, aber anstrengender als ein kompletter Grand Prix. Im Audi RS6 ist es dagegen vergleichsweise gemütlich, der Wind pfeift selbst bei diesem Tempo eher verhalten um A-Säulen und Außenspiegel, das luftgefederte Fahrwerk bügelt die leicht unebene Autobahn, und der Der Audi RS6-Kombi läuft so unerschütterlich geradeaus, dass man vermutlich selbst bei Caracciolas Rekordmarke die Hände vom Lenkrad nehmen könnte. Wumm, die nächste Brücke fliegt über uns vorbei, Fuß vom Gas, der Audi RS6 rollt aus, die Raststätte, Baustelle, Tempo 80. Nochmal zurück Richtung Frankfurt, wieder 310. Der Verkehr ist etwas dichter geworden, also kein Risiko. Gas weg, das reicht.

Audi RS6 bietet teures Vergnügen

Der Heimweg mit dem Audi RS6 führt nicht über die Autobahn, der Odenwald und das Hohenlohische bieten aufregendere Alternativen für den Weg nach Süden. Die Landstraßenfahrt offenbart zudem eine kaum überraschende Erkenntnis über den Audi RS6: Er macht hier noch mehr Spaß als auf der Autobahn. In den manuell eingelegten Gängen drei und vier feuert er sich durch die Kurven, drängt beim Beschleunigen mit dem Heck leicht nach außen, die Traktion ebenso unerschütterlich wie die Carbon-Keramik-Bremsen. Schließlich gehören Bremsanlage und Sportdifferenzial zusammen mit der Aktivlenkung und dem Sportfahrwerk zum 12.900 Euro teuren Dynamikpaket Plus, mit dem der Audi RS6 zum 305-km/h-Über-Kombi wird. 120.800 Euro kostet er so.

Mindestens, für 21-Zoll-Räder und die Komfortsitze kommen rund 3.000 Euro hinzu.
Kein ganz billiges Vergnügen, doch der Audi RS6 ist mit seinen Fahrleistungen und dem extrem fahrsicheren wie agilen Fahrwerk ein einzigartiges Auto. Jedoch kein ganz leichtes, der Audi RS6-Testwagen wiegt genau 2.041 Kilogramm – immerhin 100 weniger als der V10-Vorgänger, doch fast 800 mehr als Rosemeyers Rekordwagen von 1938. Dessen Startgewicht: 1.270 Kilogramm.

Rosemeyers letzte Fahrt

Am 28. Januar 1938 duellieren sich Auto Union und Mercedes auf der Reichsautobahn 22 (heute A 5) um den Geschwindigkeitsrekord auf Autobahnen. Rudolf Caracciola fährt vormittags in seinem Mercedes W 125 den fliegenden Kilometer mit 432,7 km/h – der bis heute gültige Rekord – und übertrifft damit Rosemeyers Bestmarke vom Oktober 1937 (406,3 km/h). Beim Versuch, sich den Rekord zurückzuholen, wird Rosemeyer im Typ R (Rekordwagen) aus nie ganz geklärten Gründen aus der Spur getragen. Der Rekordwagen überschlägt sich mit 430 km/h. Bernd Rosemeyer wird herausgeschleudert und ist sofort tot.

Vor- und Nachteile
Karosserie
Audi RS6
großzügiges Raumangebot für vier Insassen
großer Kofferraum
sehr hochwertige Verarbeitungsqualität
bei Bestellung mit Dynamikpaket keine Anhänge-Zugvorrichtung lieferbar
nur bedingt als Fünfsitzer tauglich
Fahrkomfort
guter Federungskomfort
wenig Windgeräusche
sehr gute und bequeme Sitze
steifes Abrollen bei niedrigen Geschwindigkeiten
Antrieb
kräftiger, drehfreudiger Motor
weich und schnell schaltendes Getriebe
Gänge 1 und 2 kurz übersetzt
Fahreigenschaften
agiles, neutrales Fahrverhalten
sehr hoher Grenzbereich
sehr gute Traktion
exzellenter Geradeauslauf
etwas zu leichtgängige und rückmeldungsarme Lenkung
Sicherheit
exzellente Bremsen
reichhaltige Sicherheitsausstattung
mäßige Übersichtlichkeit
Umwelt
niedriger Normverbrauch
extrem hoher Verbrauch bei schneller Fahrweise
lautes Motorgeräusch bei hoher Last
Kosten
sehr hoher Grundpreis
teurer Unterhalt,
hoher Wertverlust

Fazit

Braucht die Welt über 300 km/h schnelle Kombis? Vermutlich eher nicht, doch der Audi RS6 kann mehr als nur schnell geradeaus: Er ist überraschend agil und extrem fahrsicher, zudem bei verhaltener Fahrt sparsam.

Technische Daten
Audi RS 6 Avant
Grundpreis107.900 €
Außenmaße4979 x 1936 x 1482 mm
Kofferraumvolumen565 bis 1680 l
Hubraum / Motor3993 cm³ / 8-Zylinder
Leistung412 kW / 560 PS bei 5700 U/min
Höchstgeschwindigkeit250 km/h
0-100 km/h3,5 s
Verbrauch9,8 l/100 km
Testverbrauch13,8 l/100 km
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AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024
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Erscheinungsdatum 08.05.2024

148 Seiten