Verkehrsrecht: Halterhaftung
Hebel-Vertrag

Der Lissabon-Vertrag hat die Kompetenzen der EU-Kommission gestärkt. Sie will das Schuldprinzip in Verkehrssachen abschaffen: Fahrzeughalter sollen bestraft werden, auch wenn sie nicht am Steuer saßen.

Halterhaftung
Foto: panthermedia

Einen ersten Vorstoß hatte es bereits Mitte 2008 gegeben: Die EU-Kommission präsentierte einen Richtlinien-Entwurf zur "Erleichterung der grenzüberschreitenden Verfolgung von Verkehrsdelikten". Damit sollte eine weitere Stellschraube angezogen werden, um doch noch das selbsterklärte Ziel, eine Halbierung der Zahl der Verkehrstoten in Europa bis zum Ende der Dekade, erreichen zu können.

Europaweit sollen Halter- und Fahrzeugdaten ausgetauscht werden

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Tempodelikte, Alkohol am Steuer, Gurtverzicht und Rotlichtverstöße sind nämlich nach Auffassung der Brüsseler Bürokraten die Grundübel auf den Straßen in Europa und Gift für die Verkehrssicherheit. Die Zauberformel dagegen las sich im Entwurf der EU-Kommission dann so: Bei den in Frage kommenden Delikten soll ein EU-weites Informationsnetzwerk es den Mitgliedsstaaten ermöglichen, gegenseitig Halter- und Fahrzeugdaten auszutauschen. Ist der Halter festgestellt, kommt der Verfolgungs-Automatismus in Gang. Ein EU-einheitlicher Vordruck in der jeweiligen Landessprache, der so genannte Deliktsbescheid, geht dann an die Heimatadresse des vermeintlichen Verkehrssünders. Der soll auch das Bußgeld (die lustigsten Verkerhssünder-Ausreden) bezahlen. Bestreitet der Halter, zum fraglichen Zeitpunkt das Fahrzeug selbst gesteuert zu haben, soll er die Behörden über die Identität des tatsächlichen Fahrers informieren müssen (EU-Knöllchen: Ab Oktober wird eingetrieben).

Strafe ohne Schuld - das gibt es im deutschen Rechtsstaat nicht
 
In Deutschland schrillten daraufhin sämtliche Alarmglocken, denn diese Einführung der Halterhaftung durch die Hintertür wäre nach den Grundsätzen der Verfassung ein Unding gewesen. "Eine strafrechtliche oder auch nur strafrechtsähnliche Ahndung eines Delikts, wozu Verkehrsordnungswidrigkeiten zählen, ist ohne Schuld des Täters rechtsstaatswidrig", sagt Michael Brenner, der an der Universität Jena deutsches und europäisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht lehrt. Strafe ohne Schuld - das gibt es im deutschen Rechtsstaat nicht. Und dies gilt auch für vermeintliche Verkehrssünder.

Vor allem die französischen Nachbarn können den Standpunkt der Deutschen nur schwer nachvollziehen. Frankreich hat die Halterhaftung bereits vor mehr als zehn Jahren eingeführt. Nicht ohne Geburtswehen, denn damals folgte einer Beschwerde des Parlaments die Überprüfung seitens des französischen Verfassungsrats. Dieser war jedoch der Auffassung, in unklaren Fällen bestehe die persönliche Schuld des Halters darin, mit seiner Verweigerungshaltung die Wahrheitsfindung zu sabotieren.

So wollten die Franzosen dann auch die Gunst ihrer Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2008 nutzen und machten Druck pro Halterhaftung in Europa. Trotzdem gab es kein Votum im Ministerrat dafür, denn auch in Dänemark, Finnland, Luxemburg, Norwegen, Polen, Schweden, der Slowakei und in Tschechien gilt wie in Deutschland das Prinzip der Fahrerverantwortlichkeit. Zugespielt hatte den Halterhaftungs-Gegnern auch ein Gutachten des Juristischen Dienstes des EU-Rates. Die Kommission sei in diesem Bereich überhaupt nicht zuständig, hieß es darin. Vielmehr sei dies ein Fall für die laut EU-Vertrag vereinbarte justizielle Zusammenarbeit. Und dafür waren vor dem 1. Dezember 2009 die Mitgliedsstaaten zuständig, doch jetzt ist diese Gemeinschaftsrecht.

Mit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags hat sich die Rechtsgrundlage geändert
 
Denn mit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags hat sich die Rechtsgrundlage geändert - die Kompetenzen von Kommission und Parlament sind größer geworden. Es reichen qualifizierte Mehrheiten, wo in der Vergangenheit Einstimmigkeit im Ministerrat erforderlich war. Ist jetzt deutscher Widerstand gegen die Halterhaftung in Europa zwecklos? Und wenn nicht, wie kann sie verhindert werden? Diese Fragen werden auch die Experten beim diesjährigen Verkehrsgerichtstag heiß diskutieren. Die EU-Kommission hat sich von diesem Plan längst nicht verabschiedet, so viel ist klar. "Man muss auf Überraschungen vorbereitet sein", sagt Michael Brenner. Gut möglich, dass die Kommission den für 2010 angekündigten neuen Aktionsplan Verkehrssicherheit als Vehikel nutzen will. Bange ist dem Jenaer Professor dennoch nicht: "Wenn die Halterhaftung Bestandteil eine EU-Verordnung oder -Richtline ist, wäre das unvereinbar mit dem deutschen Grundgesetz", sagt er.

Das Bundesverfassungsgericht hatte mit seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag Ende Juni zwar grundsätzlich grünes Licht für den weiteren Fortgang der europäischen Integration gegeben, aber Vorbehalte und Auflagen formuliert. Wann immer EU-Beschlüsse die Identität der nationalen Souveränität betreffen oder neue EU-Kompetenzen schaffen, darf der deutsche Vertreter nicht zustimmen, und der Bundestag muss erst darüber befinden, ob sie der Verfassung entsprechen. Das Bundesverfassungsgericht behält sich zudem vor, sämtliche Entscheidungen aus Brüssel auf ihre Übereinstimmung mit den Kernwerten des Grundgesetzes zu überprüfen.
"Die Verfassungsrichter haben der Halterhaftung in Deutschland eine hohe Hürde aufgestellt, die kaum zu überwinden ist", so Brenner. Bleibt zu hoffen, dass sie nicht auf dem europäischen Altar geopfert wird.